Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Feststellung des Grades der Behinderung bei einer Diabetes mellitus-Erkrankung. Anforderung an die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigungen in der Lebensführung durch eine Diabetes-Erkrankung

 

Orientierungssatz

1. Die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 bei einem Diabetes mellitus setzt zum einen voraus, dass regelmäßige Insulininjektionen erforderlich sind, deren Dosis jeweils konkret ermittelt werden muss und dass zudem die Diabeteserkrankung zu erheblichen Beeinträchtigungen in der Lebensführung führt. Allein die Insulininjektionen unter Anpassung der jeweiligen Dosis genügen dagegen nicht zur Annahme eines GdB von 50. Vielmehr ist eine auf den Einzelfall bezogene Bewertung vorzunehmen, ob die Notwendigkeit der Insulininjektionen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in besonderem Maße beeinträchtigt.

2. Allein die Notwendigkeit, mehrmals täglich den Blutzuckergehalt zu messen begründet die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigungen in der Lebensführung ebenso wenig wie das Auftreten leichter Hypoglykämien im Alltag.

3. Einzelfall zur Bewertung des Grades der Behinderung bei einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus (hier: GdB von 40 festgestellt).

4. Einzelfall zur Beurteilung der Auswirkungen eines Diabetes mellitus auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (hier: erheblichen Beeinträchtigungen in der Lebensführung verneint).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 28.06.2018; Aktenzeichen B 9 SB 4/18 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 09.10.2015 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers.

Der 1961 geborene Kläger beantragte am 16.10.2012 für die Zeit ab Juli 2012 erstmals die Feststellung einer Behinderung und eines GdB. Er leide unter Diabetes, Gelenkproblemen an den Fingern und Durchblutungsstörungen in den Beinen. Zur weiteren Begründung legte er Kopien seines Blutzuckertagebuchs vor.

Die Beklagte holte Befundberichte des Facharztes für Innere Medizin, Diabetologie und Ernährungsmedizin Dr. O vom 22.10.2012 sowie der Fachärzte für Innere Medizin, Umweltmedizin und Ernährungsmedizin Dres. G und T vom 02.11.2012 ein und stellte mit Bescheid vom 19.11.2012 einen GdB von 40 bei Vorliegen eines insulinpflichtigen Diabetes mellitus (Einzel-GdB 40) und eines Magen- und Zwölffingerdarmleidens (Einzel-GdB 10) fest.

Zur Begründung des hiergegen am 28.11.2012 eingelegten Widerspruchs trug der Kläger vor, dass seine Diabeteserkrankung unterbewertet sei. Er müsse immer wieder seine Werte kontrollieren, um nicht zu unterzuckern. Die Beklagte holte daraufhin Befundberichte des Arztes für Orthopädie Dr. L vom 05.02.2013 sowie des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. E vom 15.02.2013 ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 15.04.2013 wies die Bezirksregion Münster den Widerspruch zurück. Zwar lägen weitere Beeinträchtigungen in Form einer Arthrose der Fingergelenke und einem Krampfaderleiden mit Einzel-GdB-Werten von jeweils 10 vor. Der GdB ändere sich dadurch aber nicht.

Am 07.05.2013 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Münster (SG) erhoben und zur Begründung vorgetragen, insbesondere der insulinpflichtige Diabetes mellitus sei unzureichend bewertet worden. Hierzu legte er eine ärztliche Bescheinigung des Diabetologen Dr. O vom 18.06.2013 vor, wonach bei der Gewährleistung von tolerablen Blutzuckerwerten auch häufig Unterzuckerung aufträten. Die Notwendigkeit häufiger Selbstkontrollen während der Arbeit sei gegeben. Hierfür sehe die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung -Versorgungsmedizinische Grundsätze - (AnlVersMedV) einen GdB von 50 vor. Weiter legte er eine Bescheinigung von Dr. G vom 02.11.2012 vor, der ausführte, auch die rezidivierenden epigastrischen Beschwerden sowie eine Refluxösophagitis I-Grades und Schwellungen und Schmerzen beider Sprunggelenke seien unzureichend bewertet.

Da SG hat Befundberichte von Dr. O vom 10.09.2013, Dr. T vom 09.09.2013 und Dr. L vom 10.09.2013 eingeholt und die Diabetiker-Tagebücher des Klägers angefordert. Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat es ein fachinternistisches Gutachten von Prof. Dr. H vom 25.07.2014 eingeholt. Dieser hat einen insulingeführten Diabetes mellitus (GdB 50), Unterschenkelvarikosis beidseits mit Zustand nach Varizen Stripping rechts 2012 (GdB 10) sowie Fingergelenkpolyarthrose (GdB 10) diagnostiziert. Die weiteren Gesundheitsstörungen (ulcus duodeni sowie Refluxösophagitis) würden keinen Einzel-GdB bedingen. Der Gesamt-GdB sei mit 50 zu beurteilen. Bei dem Kläger komme es trotz guter Schulung bedingt durch die unterschiedliche berufliche Belastungsintensität als Schweißer zu Über- und Unterzuckerungen. Diese bemerke er selbständig, so dass Fremdhilfe derzeit noch nicht erforderlich sei. Es sei aber von einem schwer einstellbaren Diabetes mellitus auszugehen. Der Kläger neige trotz gut...

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