Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Erzwingung eines Hauptsacheverfahrens durch den im einstweiligen Rechtsschutzverfahren unterlegenen Antragsgegner
Leitsatz (amtlich)
1. Der in einem einstweiligen Anordnungsverfahren unterlegene Antragsgegner kann über einen Antrag nach § 926 Abs 1 ZPO iVm § 86b Abs 2 S 4 SGG die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens erzwingen.
2. Dies gilt insbesondere dann, wenn die im Eilverfahren getroffene Regelung faktisch einer dauerhaften Regelung gleichkommt.
3. Ein Rechtschutzinteresse kann in diesem Fall wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung nicht verneint werden.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Koblenz vom 16.6.2011 aufgehoben: Der Antragsgegner wird verpflichtet, binnen Monatsfrist ab Zustellung dieses Beschlusses Klage zur Hauptsache zu erheben.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Mit Schreiben vom 22.9.2009 teilte die Antragstellerin dem Antragsgegner mit, dass aufgrund einer Verrechnung mit einer Forderung der Bundesagentur für Arbeit in Höhe von 14.120 € die ab dem 1.10.2009 zu bewilligende Regelaltersrente um monatlich 40 € gekürzt werde. Das Schreiben enthielt den Hinweis, dass für den Fall, dass man die Verrechnungserklärung als rechtswidrig ansehe, die Möglichkeit bestehe, eine auf vollständige Auszahlung der Rente gerichtete sozialgerichtliche Leistungsklage zu erheben. Aufgrund dieser Verrechnungserklärung wurde dem Antragsgegner ab dem 1.10.2009 Regelaltersrente unter Abzug eines monatlichen Betrages von 40 € bewilligt.
Dagegen erhob der Antragsgegner am 22.10.2009 beim Sozialgericht (SG) Koblenz Klage (S 5 R 924/09) und beantragte am gleichen Tag den Erlass einer einstweiligen Anordnung (S 5 R 940/09 R). Mit Beschluss vom 21.12.2009 verurteilte das SG die Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung, dem Antragsgegner die ab dem 1.10.2009 bewilligte Regelaltersrente bis zum Erlass eines Verwaltungsaktes über die Vornahme einer Verrechnung nach § 52 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) in ungekürzter Höhe auszuzahlen. Daraufhin erklärte der Antragsgegner die Klage am 3.3.2010 als erledigt.
Am 16.9.2010 stellte die Antragstellerin beim SG Koblenz den Antrag, gemäß § 86 b Abs. 2 S. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 926 Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO) anzuordnen, dass der Antragsgegner binnen einer durch das Gericht zu bestimmenden Frist Klage erheben solle.
Mit Beschluss vom 16.6.2011 lehnte das SG den Antrag ab. Zur Begründung führte es aus, der zulässige Antrag sei unbegründet, weil eine zu erhebende Klage des Antragsgegners nach derzeitigem Sachstand nicht zulässig sei.
Am 18.7.2011 hat die Antragstellerin gegen diesen Beschluss Beschwerde erhoben.
Zu deren Begründung hat sie vorgetragen, soweit das Erstgericht die Auffassung vertrete, dass die Begründetheit des Antrags an der fehlenden Zulässigkeit der Hauptsacheklage scheitere, könne man sich dieser Auffassung nicht anschließen. Die Zulässigkeit einer Hauptsacheklage werde nicht dadurch in Frage gestellt, dass eine einstweilige Anordnung zu Gunsten des Antragsgegners ergangen sei, die beachtet werden müsse. Denn eine einstweilige Anordnung stehe in ihrer Wirkung einem rechtskräftigen Urteil nicht gleich. Der Begünstigte einer einstweiligen Anordnung habe daher ein fortbestehendes Interesse daran, zusätzlich ein entsprechendes Urteil zu seinen Gunsten zu erwirken. Dieses Ziel könne er nur durch eine Hauptsacheklage erreichen. Das Rechtschutzinteresse für eine derartige Klage sei daher uneingeschränkt zu bejahen. Die gegenteilige Auffassung des Erstgerichts werde in Rechtsprechung und Schrifttum nicht geteilt. Wäre sie zutreffend, so würde die Regelung des § 926 ZPO leer laufen, da sie gerade für Fallkonstellationen der vorliegenden Art geschaffen worden sei. Einstweilige Anordnungen ergingen in einem summarischen Verfahren ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung der ehrenamtliche Richter, unter Umständen sogar ohne Anhörung des Antragsgegners. Die Regelung des § 926 ZPO solle dem in einem Anordnungsverfahren unterlegenen Antragsgegner die Möglichkeit eröffnen, eine Nachprüfung der gegen ihn ergangenen Anordnung in einem Hauptverfahren zu erzwingen.
Auf Nachfrage des Senats hat der Antragsteller mitgeteilt, dass er fortlaufend Altersrente in ungekürzter Höhe an den Antragsgegner zahle, dies jedoch nur bis zum Ende des Beschwerdeverfahrens. Im Falle der Erfolglosigkeit der Beschwerde werde die Verrechnung zum nächstmöglichen Zeitpunkt wieder aufgenommen. Die einstweilige Anordnung habe nur vorläufigen Regelungscharakter bis zu einer Hauptsacheentscheidung und werde dann gegenstandslos, wenn eine Hauptsacheentscheidung nicht mehr angestrebt werde und von ihm auch nicht erzwungen werden könne.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Koblenz vom 16.6.2011 aufzuheben und anzuordnen, dass der Antragsgegner binnen einer durch das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen...