Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Anwendung auch bei abgeleitetem Aufenthaltsrecht der Eltern durch Wahrnehmung der elterlichen Sorge für ein freizügigkeitsberechtigtes, die Schule besuchendes Kind. Verfassungsmäßigkeit. kein Sozialhilfeanspruch
Leitsatz (amtlich)
1. Das aus Art 10 VO (EU) 492/2011 (juris: EUV 492/2011) abgeleitete Aufenthaltsrecht des Kindes eines Unionsbürgers, der in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt ist oder war, zum Schulbesuch ist kein weiteres Aufenthaltsrecht iS des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II und steht dem Leistungsausschluss daher nicht entgegen. Denn es handelt sich hierbei um ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger, das nach dem Wortlaut des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ebenfalls zum Leistungsausschluss führt.
2. Bei dem aus Art 10 VO (EU) 492/2011 abgeleiteten Aufenthaltsrecht zum Schulbesuch handelt es sich nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl EuGH vom 23.2.2010 - C-480/08 - Teixeira = Slg 2010, I-1107, vom 17.9.2002 - C-413/99 - Baumbast und R = Slg 2002, I-7091 und vom 23.2.2010 - C-310/08 - Ibrahim = Slg 2010, I-1065) um ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger, denn es knüpft (zumindest auch) an den Arbeitnehmerstatus eines Elternteils an, der zumindest zu Beginn des Schulbesuchs bestanden haben muss.
3. Einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit Inländern haben nur die in Art 24 Abs 2 iVm § 14 Abs 4 Buchstabe b RL 2004/38/EG (juris: EGRL 38/2004) genannten Freizügigkeitsberechtigten und - nach dem Günstigkeitsvergleich nach § 11 Abs 1 S 11 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) - Aufenthaltsberechtigte nach dem Aufenthaltsgesetz. Nur deren Aufenthaltsrechte stehen dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II entgegen.
Orientierungssatz
1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 verstößt auch weder gegen Europarecht noch gegen das GG.
2. Die von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossenen Unionsbürger haben auch bei einem über sechs Monate hinaus andauernden Aufenthalt im Inland keinen Sozialhilfeanspruch nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12 im Wege der Ermessensreduzierung auf Null, wenn keine Anhaltspunkte vorgetragen oder ersichtlich sind, die die Anwendung der Ausnahmevorschrift rechtfertigen würde (entgegen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 43).
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; SGB XII § 21 S. 1, § 23 Abs. 1 S. 3, Abs. 3 S. 1; FreizügG/EU 2004 § 2 Abs. 2 Nrn. 1a, 6, Abs. 3 S. 1 Nr. 2; FreizügG/EU 2004 § 2 Abs. 3 S. 2; FreizügG/EU 2004 § 2 Abs. 3 S. 3, § 3 Abs. 4, § 11 Abs. 1 S. 11; EUV 492/2011 Art. 10; EGRL 38/2004 Art. 12 Abs. 3, Art. 14 Abs. 4 Buchst. b, Art. 24 Abs. 2; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; SGG § 75 Abs. 2
Tenor
1. Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Mainz vom 7.6.2016 aufgehoben und der Antrag abgelehnt.
2. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
3. Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt F, M beigeordnet.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren die Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.
Die Antragsteller sind bulgarische Staatsangehörige, die im September 2014 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind. Die Antragstellerin zu 1. und der Antragsteller zu 2. sind seit dem 19.8.2015 verheiratet. Die Antragstellerinnen zu 3 (geboren 2001) und 4 (geboren 2005) sind die leiblichen Kinder der Antragstellerin zu 1. und besuchen die Schule, die Antragstellerin zu 3. die Klasse 9b der L Grund- und Realschule plus B (Schulbescheinigung vom 2.6.2016) und die Antragstellerin zu 4. die Klasse 4a der Grundschule am L (Schulbescheinigung vom 2.6.2016). Die Antragsteller wohnen zusammen in M zu einer monatlichen Gesamtmiete von € 385,--. Der Antragsteller zu 2. war vom 18.5.2015 bis zum 30.12.2015 als Möbel- und Küchenmonteur / Umzugshelfer zu einer monatlichen Bruttovergütung von € 1.360,-- beschäftigt. Das Beschäftigungsverhältnis hat er am 30.12.2015 gekündigt (Bestätigung der Kündigung durch den früheren Arbeitgeber D T vom 21.4.2016). Als Grund für die Kündigung hat der Antragsteller zu 2. dem Antragsgegner mitgeteilt, dass sich sein Arbeitgeber nicht an die abgemachten Vereinbarungen gehalten habe; insbesondere habe er statt der vereinbarten acht Stunden täglich fast 13 Stunden und mehr ohne zusätzliche Bezahlung arbeiten müssen.
Bereits am 28.5.2015 hatten die Antragsteller Leistungen nach dem SGB II beim Antragsgegner beantragt, der aber lediglich dem Antragsteller zu 2. für den Monat Mai 2015 Leistungen bewilligt und den Antrag im Übrigen abgelehnt hat.
Einen erneuten Antrag vom 19.2.2016 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 11.5.2016 ab: Die Antragsteller hätten lediglich ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche und als Familienang...