Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschwerde wegen Untätigbleibens des Sozialgerichts. Nichtbetreiben des Verfahrens bis zur Bestellung eines Betreuers. Rechtsschutzgewährleistung. Zügige Bestellung eines besonderen Vertreters
Leitsatz (amtlich)
Das tatsächliche Nichtbetreiben des Rechtsstreits bis zur vormundschaftsgerichtlichen Entscheidung über die Bestellung eines Betreuers ist nicht zulässig. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung tatsächlich wirksamen Rechtsschutzes gebietet es, zügig über die Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 Abs 1 SGG zu entscheiden.
Tenor
Das Sozialgericht wird verpflichtet, unverzüglich über der Bestellung eines besonderen Vertreters der Klägerin zu entscheiden.
Tatbestand
I.
Die Klägerin begehrt sinngemäß, das Sozialgericht zu verpflichten, durch geeignete Maßnahmen den Rechtsstreit zügig zu betreiben.
Am 13.10.1997 hat die Klägerin Klage mit dem Begehren erhoben, den Bescheid der Beklagten vom 07.04.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.10.1997 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine höhere Altersrente für Frauen nach § 39 des Sechsten Sozialgesetzbuchs (SGB VI) zu gewähren.
Nach Eingang der Klageerwiderung und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten am 16.01.1998 sowie weiterem umfangreichen Vorbringen der Klägerin hat die zuständige Kammervorsitzende am 03.07.1998 die Wiedervorlage der Gerichtsakte für den 10.09.1998 zum Zweck der Ladung verfügt. Nach weiterem Vorbringen der Klägerin hat die Kammervorsitzende am 06.03.1999 die Gerichtsakten „zum Termin” verfügt.
Im März 1999 hat ein anderer Richter den Kammervorsitz übernommen.
Mit Verfügung vom 02.02.2000 hat der Kammervorsitzende die Beiziehung von Verwaltungsvorgängen des Arbeitsamtes verfügt.
Auf entsprechende Anfrage teilte der Präsident des Sozialgerichts Mainz der Klägerin mit Schreiben vom 04.02.2000 mit, das Gericht werde „nach Eingang der angeforderten Verwaltungsakten des Arbeitsamtes Mainz Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumen”.
Mit Schreiben vom 11.04.2000 hat der Kammervorsitzende das Amtsgericht – Vormundschaftsgericht – Mainz gebeten mitzuteilen, ob für die Klägerin ein Betreuer bestellt sei, und zur Begründung dargelegt: Die Feststellungen in Zusammenhang mit arbeitsmedizinischen Begutachtungen deuteten auf eine erhebliche Persönlichkeitsstörung der Klägerin hin. Für den Fall, dass noch kein Betreuer bestellt sei, werde gebeten zu prüfen, ob ein entsprechendes Verfahren einzuleiten sei. Mit Schreiben vom 25.04.2000 teilte das Amtsgericht – Vormundschaftsgericht – Mainz mit, bislang sei weder ein Betreuer für die Klägerin bestellt noch ein Betreuungsverfahren eingeleitet, die entsprechende Prüfung erfolge allerdings nunmehr. Mit Verfügung vom 29.05.2000 hat der Kammervorsitzende die Wiedervorlage der Gerichtsakte für den 01.07.2000 verfügt.
Nach entsprechenden weiteren Antragen hat die Klägerin mit Schreiben vom 10.08.2000 geltend gemacht: Der zuständige Kammervorsitzende verschleppe den Rechtsstreit. Das komme einer Rechtsschutzverweigerung gleich. Daher habe sie auch Anspruch auf Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Sozialgericht zu verpflichten, durch geeignete Maßnahmen den Rechtsstreit zügig zu betreiben.
Der Kammervorsitzende hat dieses Schreiben als Befangenheitsgesuch beurteilt, eine dienstliche Äußerung hierzu abgegeben und mit Schreiben vom 17.08.2000, eingegangen am 24.08.2000, die Gerichtsakten dem Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zur Entscheidung über das Befangenheitsgesuch vorgelegt.
Die Gerichtsakten S 7 I 360/97 und S 7 Ar 85/93 – jeweils Sozialgericht Mainz –, die Verwaltungsvorgänge der Beklagten, Az. … die Betreuungsakte des Amtsgerichts Mainz, Az. 40 XVII 349/00 und die medizinischen Unterlagen des Arbeitsamtes Mainz, Az. …, liegen vor und sind Gegenstand der Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang auch begründet.
1. a) Das Schreiben der Klägerin vom 10.08.2000 ist als Beschwerde gegen das Untätigbleiben des Sozialgerichts und nicht als Befangenheitsgesuch nach § 60 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 42 der Zivilprozessordnung (ZPO) zu werten. Die Klägerin macht geltend, ihr werde der Rechtsschutz durch Verschleppung des Prozesses verweigert. Demgegenüber trägt sie nicht vor, die Rechtsschutzverweigerung beruhe auf einer unsachlichen inneren Einstellung des Kammervorsitzenden. Nur dann enthielte ihr Schreiben ein Befangenheitsgesuch (zum Ganzen vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl. 1998, § 60 Rdn. 7).
b) Die Beschwerde gegen das Untätigbleiben des Sozialgerichts ist in entsprechender Anwendung des § 172 Abs. 1 SGG zulässig. Diese Auslegung der Vorschrift geht allerdings über den Wortlaut der Bestimmung hinaus, wonach nur gegen „Entscheidungen” der Sozialgerichte Beschwerde erhoben werden kann. Sie ist jedoch unter dem Blickwinkel des verfassungsrechtlichen Gebots tatsächlich wirksamen Rechtsschutzes nach Art. ...