Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht oder bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. eigenständige Freizügigkeitsrechte nach Art 10 EUV 492/2011 für das eine Schule besuchende minderjährige Kind und seine Mutter. Nachzug eines volljährigen Kindes. Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger in entsprechender Anwendung des § 3 Abs 1 S 1 FreizügG/EU 2004. Leistungsausschluss für die ersten drei Monate des Aufenthalts
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Begründung der jeweils eigenständigen, die Anwendung der Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und Nr 2 SGB II ausschließenden Freizügigkeitsrechte aus Art 10 EUV 492/2011 genügt es, wenn Arbeitnehmerstatus des Elternteils und Ausbildung des Kindes während des Aufenthaltes zusammenfallen; es ist nicht erforderlich, dass zum Zeitpunkt der Einschulung des minderjährigen Kindes oder zum Zeitpunkt seiner Wohnsitznahme eine Arbeitnehmereigenschaft eines Elternteils vorlag.
2. Die Familienangehörigen der nach Art 10 EUV 492/2011 freizügigkeitsberechtigten Eltern können von diesen nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) bzw in entsprechender Anwendung des § 3 Abs 1 S 1 FreizügG/EU ein Aufenthaltsrecht ableiten, das die Anwendung der Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und Nr 2 SGB II ausschließt.
3. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II gilt nur für Sachverhalte, in denen das Aufenthaltsrecht auf der Richtlinie 2004/38/EG (juris: EGRL 38/2004) beruht und erfasst demnach nur Personen, die ihr voraussetzungsloses dreimonatiges Aufenthaltsrecht nach Art 6 Abs 1 Richtlinie 2004/38/EG in Anspruch nehmen.
Tenor
1. Auf die Beschwerden der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 18.12.2023 geändert und der Entscheidungssatz zu 1 wie folgt gefasst:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet,
a. den Antragstellern für die Monate Oktober und November 2023 vorläufig Leistungen zu den Bedarfen für Unterkunft und Heizung von insgesamt 1.151,12 € sowie
b. den Antragstellern ab dem 1.11.2023 jeweils bis zum 30.4.2024, längstens aber bis zur Rechtskraft einer Entscheidung in der Hauptsache, vorläufig Bürgergeld zu gewähren.
2. Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
3. Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe gewährt und ihnen R B, B, beigeordnet.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten sind Ansprüche auf Bürgergeld nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB) streitig.
Die Antragsteller sind polnische Staatsangehörige. Die 1984 geborene Antragstellerin zu 1 ist die Mutter der Antragsteller zu 2 bis 4. Sie hält sich seit Januar 2020 in Deutschland auf, die am 19.1.2007 geborene Antragstellerin zu 2 zog im Juni 2021 von Polen zu ihr. Die Antragstellerin zu 3 wurde am 23.11.2020 in R geboren. Der am 11.9.2004 geborene Antragsteller zu 4 hält sich seit Ende August 2023 in Deutschland bei seiner Mutter auf. Der Vater der Antragsteller zu 2 und 4 ist der Ehemann der Antragstellerin zu 1 und lebt nach Aktenlage in Polen. Er hat vor dem dortigen zuständigen Gericht seine Unterhaltsverpflichtung in bestimmter Höhe anerkannt. Nach Angaben der Antragstellerin zu 1 wird tatsächlich Kindesunterhalt von monatlich 110,00 € für die Antragstellerin zu 2 und 160,00 € für den Antragsteller zu 4 gezahlt. Der Vater der Antragstellerin zu 3 ist ebenfalls polnischer Staatsangehöriger, lebt in Deutschland, hat die Vaterschaft anerkannt und zahlt nach Angaben der Antragstellerin zu 1 Unterhalt von 150,00 € monatlich. Seine aktuelle Anschrift ist der Antragstellerin zu 1 ihren Angaben zufolge nicht bekannt. Sie bezieht Kindergeld für die Antragstellerinnen zu 2 und 3.
Die Antragstellerinnen zu 1 bis 3 wohnten zuvor in R und bezogen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Zuletzt wurden ihnen vom Jobcenter G -G mit Bescheid vom 11.7.2022 Leistungen für die Zeit vom 1.9.2022 bis 31.8.2023 gewährt. Nach der Trennung der Antragstellerin zu 1 vom Vater der Antragstellerin zu 3 beschloss sie ihren Umzug in den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners, dessen Notwendigkeit das Jobcenter G -G mit Bescheid vom 11.7.2023 bestätigte. Am 14.7.2023 beantragte sie beim Antragsgegner Bürgergeld. Sie legte eine Mietangebotsbescheinigung für ihre aktuelle Wohnung in O an der Q vor. Die Gesamtmiete beträgt 728,56 €. Hiervon entfallen auf die Nettokaltmiete 385,56 €, auf die Vorauszahlungen für Betriebskosten 190,00 € und für Heizkosten 153,00 €. Warmwasser wird mit der Zentralheizung bereitet. Der Antragsgegner erteilte mit Bescheid vom 9.8.2023 die Zusicherung zu den genannten Kosten. Am 6.9.2023 schloss die Antragstellerin zu 1 einen Mietvertrag zu den o.g. Bedingungen ab. Die vereinbarte Mietkaution beträgt 1.156,00 €. Das Mietverhältnis begann am 10.9.2023.
Die Antragstellerin zu 2 besuchte seit September 2021 die M -N -Schule in R und wechselte zum Schuljahr...