Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Teilurteil. isolierte Aufhebung des Widerspruchsbescheides. Nachholung des Widerspruchsverfahrens. gebundene Entscheidung der Verwaltung. Zugangsfiktion des § 37 SGB 10. Rechtsbehelfsbelehrung
Leitsatz (amtlich)
1. Weist die Widerspruchsbehörde den Widerspruch als unzulässig zurück und entscheidet sie nicht in der Sache, sind die Gerichte an einer sachlich-rechtlichen Überprüfung des Klagebegehrens gehindert. In diesem Fall ist nach dem Rechtsgedanken des § 79 Abs 2 VwGO der Widerspruchsbescheid isoliert durch Teilurteil aufzuheben und das Verfahren ist zur Nachholung des Widerspruchsverfahrens auszusetzen. Dies gilt auch bei "gebundenen", dh nicht im Ermessen der Verwaltung stehenden Entscheidungen.
2. Die Zugangsvermutung des § 37 Abs 2 SGB 10 setzt voraus, dass der Tag der Aufgabe des Schreibens zur Post nachweisbar ist. Steht dieser Tag nicht fest, läuft die Widerspruchsfrist nicht.
3. Eine Rechtsbehelfsbelehrung darf nicht an einer unübersichtlichen Stelle des Bescheides versteckt, muss aber nicht mit einer gesonderten Überschrift versehen werden.
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 29.07.2009 - S 9 AL 39/07 - abgeändert. Der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 18.01.2007 wird aufgehoben, soweit er den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 23.08.2006 als unzulässig verworfen hat.
2. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) auch für den Zeitraum vom 31.07. bis 08.08.2006.
Der 1966 geborene Kläger war zuletzt vom 05.04. bis 24.06.2005 als Sortierer bei der H GmbH und seit 29.06.2005 als Produktionshelfer bei der Firma S Industrie-Service (Arbeitgeber) beschäftigt. Mit Schreiben vom 27.06.2006 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 12.07.2006. In dem anschließenden Verfahren vor dem Arbeitsgericht Koblenz (5 Ca 1355/06) schlossen die Arbeitsvertragsparteien am 12.12.2006 einen Vergleich, wonach das Arbeitsverhältnis nicht aufgrund der Kündigung vom 27.06.2006 beendet worden ist, sondern unbefristet fortbesteht.
Der Kläger war seit 03.05.2006 arbeitsunfähig erkrankt und erhielt von der Allgemeinen Ortskrankenkasse Rheinland-Pfalz (AOK) ab 14.06.2006 Krankengeld. Nachdem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) am 24.07.2006 ausführte, dass eine Beendigung der Arbeitsunfähigkeit des Klägers zum 30.07.2006 möglich sei, teilte die AOK dem Kläger mit Bescheid vom 25.07.2006 mit, dass er mit Ablauf des 30.07.2006 wieder in der Lage sei, seine letzte Tätigkeit als Hilfsarbeiter/Produktionsmitarbeiter aufzunehmen und dass die Krankengeldzahlung zu diesem Zeitpunkt ende. Der Kläger erhielt zusätzlich Aufstockungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Der Kläger legte der ARGE als Träger nach dem SGB II am 01.06. (Zeitraum vom 31.05. bis 14.06.2006), am 20.06.2006 (Zeitraum vom 15.06. bis 03.07.2006) und am 04.07.2006 (Zeitraum vom 04.07. bis 14.07.2006) Kopien der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Am 30.06.2006 sprach er bei der ARGE vor und meldete sich zum 13.07.2006 arbeitslos (Vermerk vom 30.06.2006). Eine Mitarbeiterin der Beklagten wies ihn am 03.07.2006 auf das Erfordernis einer rechtzeitigen erneuten Arbeitslosmeldung bei einer Genesung hin; der Kläger legte zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Am 21.07.2006 gab er gegenüber der ARGE an, weiter arbeitsunfähig zu sein.
Am 09.08.2006 meldete er sich bei der Beklagten arbeitslos und beantragte am 21.08.2006 die Gewährung von Alg. Am 21.08.2006 nahm der Kläger die Beschäftigung bei dem Arbeitgeber wieder auf.
Die Beklagte bewilligte mit Bescheiden vom 23.08. und 30.08.2006 Alg für den Zeitraum vom 09.08. bis 20.08.2006 nach einem täglichen Bemessungsentgelt von 44,98 € und einem Leistungsbetrag von täglich 16,31 € (Bescheid vom 23.08.2006, Steuerklasse V) bzw. von 23,81 € (Bescheid vom 30.08.2006, Steuerklasse III). Der sechsseitige Bescheid vom 23.08.2006 enthielt auf den Seiten 2 bis 3 nach den dargestellten Berechnungsgrundlagen und vor den Hinweisen zur Höhe des Alg folgende Rechtsmittelbelehrung:
"Gegen diesen Bescheid ist der Widerspruch zulässig. Der Widerspruch ist schriftlich oder zur Niederschrift bei der oben bezeichneten Agentur für Arbeit einzureichen, und zwar binnen eines Monats, nach dem der Bescheid Ihnen bekanntgegeben worden ist."
Bei dem fünfseitigen Bescheid vom 30.08.2006 befand sich die gleichlautende Rechtsmittelbelehrung nach den Berechnungsgrundlagen und dem Hinweis auf eine Änderung der Verhältnisse wegen der Lohnsteuerklasse auf Seite 3 vor den Hinweisen zu den zu beachtenden Gesichtspunkten.
Die als Zweitschrift in der Verwaltungsakte der Beklagten abgehefteten Bescheide enthalten keinen Vermerk über die Aufgabe zur Post und wurden vom BA-IT-Systemhaus der Beklagten in Nürnberg erstellt. Der Bescheid vom 23.08.2006 ist entweder am 23. oder 24...