Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufskrankheit. haftungsausfüllende Kausalität. Anscheinsbeweis. bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule

 

Orientierungssatz

1. Zur Anwendbarkeit des § 9 Abs 3 SGB 7 auf Versicherungsfälle, die vor Inkrafttreten des SGB 7 (1.1.1997) eingetreten sind.

2. Der in § 9 Abs 3 SGB 7 geregelte Anscheinsbeweis setzt voraus, daß der Versicherte "in erhöhtem Maße" der Gefahr einer der in der BKVO aufgeführten Erkrankungen ausgesetzt war, wobei bei der Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs wesentlich die Rechtslage zu berücksichtigen ist, die nach bisherigem Recht bestand (vgl LSG Mainz vom 24.7.1997 - L 7 U 18/97 = Breith 1998, 573).

3. Eine tatsächliche Vermutung iS der Regeln des Anscheinsbeweises für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Erkrankung und Berufstätigkeit bestand nach altem Recht nur, wenn die Berufskrankheit in der Anlage 1 zu BKVO so genau definiert war, daß nach medizinischen Erkenntnissen bei Vorliegen der Tatbestandsmerkmale im Regelfall ein wahrscheinlicher Ursachenzusammenhang gegeben ist. Dies ist jedoch bei Versicherten, die die definitionsmäßigen Anforderungen der Berufskrankheit gemäß BKVO Anl 1 Nr 2108 erfüllen, nicht der Fall.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei dem Kläger eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit der Lendenwirbelsäule nach Nr 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) besteht.

Der 1952 geborene Kläger war von 1966 bis Januar 1993 als Raumausstatter und zwar ab 1984 im eigenen Betrieb tätig. Er verlegte dabei überwiegend Teppichböden und PVC-Beläge.

Mit Schreiben vom 16.3.1993 erstattete der Kläger eine Berufskrankheitsanzeige wegen Bandscheibenvorfalls mit Druck auf die Nervenwurzel und teilte mit, bei ihm seien erstmals im Mai 1992 Schmerzen an der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung ins rechte Bein aufgetreten. Er habe am 15.2.1993 die Arbeit eingestellt. Zugleich legte der Kläger einen Durchgangsarztbericht des Chirurgen Dr. F. vom 4.9.1992 vor, in dem eine Bandscheibenprotrusion L3/L4 genannt ist. Der Kläger machte für seine Erkrankung das Be- und Entladen von Gardinenballen und Bodenbelägen sowie das Verlegen von Bodenbelägen verantwortlich. Er gab weiter an, 2/3 seines Arbeitstages entfalle auf das Tragen von Teppichrollen, Spachtelmassen, Klebstoffeimern sowie Arbeitern in extremer Beuge- und Verdrehungshaltung beim Verlegen von Bodenbelägen. Hierbei müßten ständig Gewichte von mehr als 30 kg getragen werden. Ca 1/3 des Arbeitstages entfalle auf die Montage von Gardinenleisten und Gardinen sowie Sonnenschutz. Hierbei müsse er unter einer extremen Verdrehungshaltung auf der Leiter arbeiten und zum Teil Gewichte von über 25 kg tragen.

Der behandelnde Arzt Dr. A. bestätigte in seiner Auskunft vom 2.6.1993, den Kläger seit April 1989 wegen Rückenbeschwerden zu behandeln. Laut Arztbericht des Radiologen Dr. Sch. vom 21.5.1992 ergab eine computertomographische Untersuchung einen im Segment L4/L5 rechtsseitig gelegenen überwiegend intraforaminären Bandscheibenprolaps und im Segment L5/S1 Anzeichen einer linksbetonten Bandscheibenprotrusion. Wegen des Bandscheibenvorfalls L4/5 sowie L5/S1 rechts wurde bei einer stationären Behandlung in der Zeit vom 15.2. bis 24.2.1993 im Knappschafts-Krankenhaus P. eine perkutane Lasernukleotomie der betreffenden Segmente durchgeführt. In einem Vorerkrankungsverzeichnis der privaten Krankenversicherung des Klägers - Deutsche Krankenversicherung AG - ist erstmals für die Zeit vom 15.6 bis 25.7.1990 eine Lumbago sowie eine Ischialgie genannt.

Nach Beiziehung weiterer ärztlicher Unterlagen sowie von Auskünften früherer Arbeitgeber des Klägers holte die Beklagte eine Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) ein. Dieser führte im Bericht vom 15.3.1994 aus, daß der Kläger bei seiner selbständigen Tätigkeit kurzfristig Spachtelmassen von je 25 kg und 15 kg-Eimergebinden auf Wegstrecken von ca. 50 m habe tragen müssen. Die Fußbodenverlegearbeiten sowie Vorbereitungsarbeiten seien knieend und in großer Rumpfbeuge durchgeführt worden.

Der Staatliche Gewerbearzt Dr. W. teilte der Beklagten mit Schreiben vom 16.8.1994 mit, eine Berufskrankheit nach Nr 2108 sei wegen nicht genügender arbeitstechnischer Voraussetzungen nicht wahrscheinlich zu machen.

Mit Bescheid vom 21.9.1994 lehnte die Beklagte daraufhin die Anerkennung und Entschädigung der Wirbelsäulenerkrankung des Klägers als Berufskrankheit ab, weil bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht gegeben seien. Der Kläger erhob hiergegen Widerspruch und trug zur Begründung vor, er habe Teppichrollen mit einem Gewicht von ca. 50 kg transportieren müssen. Ein Sack Spachtelmasse habe ebenfalls ein Gewicht von 25 kg gehabt. Die Verlegung und Verklebung von Fußböden gehe immer mit einer gebeugten Zwangshaltung einher. Weiter legte der Kläger ein Attest von Dr. A. vom 10.10.1994 vor, der darin die Auffassung vertrat, daß es durch die berufliche Tätigkeit zu den chronischen Rückenbeschwerden und einem Zustand na...

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