Leitsatz (amtlich)
Für die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung sind in erster Linie die einstigen tatsächlichen Ereignisse und nicht hypothetische Geschehensabläufe ausschlaggebend. Auch verfolgungsbedingt ergriffene, rentenversicherungspflichtige Berufe (nach früher selbständiger Erwerbstätigkeit) können Entschädigungsansprüche auslösen, z.B. auf Ersatzzeiten oder auf Annahme freiwilliger Beiträge zur Nachentrichtung und Weiterversicherung.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4; WGSVG §§ 1, 9-10; BEG §§ 5, 9 Abs. 5, § 138
Verfahrensgang
SG Speyer (Urteil vom 17.07.1975; Aktenzeichen S 7 J 931/74) |
Tenor
1. Das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 17. Juli 1975 wird geändert. Der Bescheid vom 24. Januar 1974 und der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 5. November 1974 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, daß der Kläger dem Grunde nach berechtigt ist, nach Maßgabe der §§ 9, 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung an die Beklagte freiwillige Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung zu entrichten.
2. Die Beklagte hat die dem Kläger in beiden Rechtszügen entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der vom Nationalsozialismus verfolgte Kläger (dem Grunde nach) berechtigt ist, sich bis zum Bezug von Altersruhegeld freiwillig weiterzuversichern und außerdem für die Vergangenheit Beiträge nachzuentrichten.
Der am … 1902 in W./damals Landkreis K. als Sohn der jüdischen Eheleute H. und J. S. geborene Kläger hat – wie sein Vater – Metzger gelernt. Im Anschluß an die Lehre bei seinem Vater arbeitete er weiter in dessen, in V. betriebener Fleischerei, bis diese infolge nationalsozialistischer Boykottmaßnahmen im Juni 1937 aufgegeben werden mußte. Zwischen dem Bezirksamt für Wiedergutmachung in K. und dem Kläger war als Entschädigungszeitraum wegen Berufsschadens stets unstreitig die Zeit von Juli 1937 bis Dezember 1944. Im Zusammenhang mit der sogenannten Kristallnacht wurde der Kläger am 9. November 1938 festgenommen, nach dem Konzentrationslager Dachau verbracht und von dort Ende Dezember 1938 entlassen. Laut Arbeitszeugnis war er vom 27. Dezember 1938 bis 15. Juni 1939 bei der J. Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke – I. Kuranstalt – in S. als Pfleger beschäftigt (in seiner Versicherungskarte Nr. 1 als Hilfspfleger bezeichnet). Zur Auswanderung verließ er Ende gleichen Monats Deutschland. Die nordamerikanische Staatsbürgerschaft nahm er 1953 an.
Aufgrund Bescheides der Beklagten vom 27. November 1967 bezieht der Kläger rückwirkend ab August gleichen Jahres Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Ausweislich der Anlage 2 = Versicherungsverlauf liegen ihr Ersatzzeiten ab 9. November 1938, Pflichtbeitragszeiten ab 27. Dezember 1938 und wieder Ersatzzeiten vom 28. Juni 1939 bis 31. Dezember 1949 zugrunde.
Mit Schreiben an die Beklagte vom 14. Dezember 1973 beantragte der Kläger, ihm die Entrichtung freiwilliger Beiträge „gemäß §§ 9, 10 WGSVG vom 22. Dezember 1970- zu genehmigen. Die Beklagte verneinte ein Recht des Klägers auf freiwillige Versicherung, indem sie seinen Bevollmächtigten durch Schreiben vom 24. Januar 1974 mitteilte: „Da er ohne die Verfolgungsmaßnahmen niemals versicherungspflichtig geworden wäre, hat er durch die Verfolgung auch keinen Sozialversicherungsschaden erlitten, so daß lediglich die Ersatzzeiten nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO für ihn in Betracht kommen, das WGSVG aber nicht anzuwenden ist. Gegen diese, als einfachen Brief versandte Mitteilung wandte sich der Kläger durch ein am 25. März 1974 bei der Beklagten eingegangenes Schreiben, das er vorsorglich als Widerspruch anzusehen hat. Darin führte er aus: Es sei in zahlreichen Fällen vorgekommen, daß ein Verfolgter in einen versicherungspflichtigen Ausweichberuf verdrängt wurde und durch weitere Verfolgung auch diesen verloren habe.
Die Widerspruchsstelle der Beklagten hat durch Bescheid vom 5. November 1974 (zugestellt am 16. desselben Monats) den Widerspruch mit der Begründung zurückgewiesen: Sie sei nach eingehender Beratung zu dem Ergebnis gekommen, daß der Bescheid vom 24. Januar 1974 nicht zu beanstanden sei. Um Wiederholungen zu vermeiden, werde auf die ausführliche Begründung des angefochtenen Bescheides hingewiesen.
Mit seiner am 9. Dezember 1974 beim Sozialgericht eingegangenen Klage hat der Kläger vorgebracht: Die Rechtsauffassung der Beklagten sei unlogisch. Denn sie selbst habe durch Berücksichtigung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten anerkannt, daß ihm ein Schaden in der Sozialversicherung entstanden sei. Unerheblich sei, daß er ohne die Verfolgung nicht versicherungspflichtig geworden wäre. Denn es sei eine Tatsache, daß er (auch) die versicherungspflichtige Tätigkeit durch Verfolgung wieder verloren habe. Hinsichtlich des eigentlichen Berufsschadens habe der Bundesgerichtshof längst erkannt (Urteil vom 13. Juni 1962 in RzW 1962 S. 428 Zeile 5), daß er auch einen Verlu...