Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung bei lebensbedrohlicher oder regelmäßig tödlicher Erkrankung gemäß § 2 Abs 1a SGB 5. Anspruch bei Ablehnung einer Zulassungserweiterung aufgrund methodischer Probleme der Datenauswahl und Datenanalyse
Orientierungssatz
Die Ablehnung einer arzneimittelrechtlichen Zulassungserweiterung (hier: Translarna zur Behandlung einer Duchenne-Muskeldystrophie bei nicht mehr gehfähigen Patienten) schließt einen Anspruch nach § 2 Abs 1a SGB V dann nicht aus, wenn die Zulassungserweiterung nicht aufgrund einer aussagekräftigen Studienlage abgelehnt wurde, sondern weil die vorgelegten Daten aus der Studie wegen methodischer Probleme der Datenauswahl und Datenanalyse den Nutzen nicht bestätigen konnten.
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 19.11.2020 und der Bescheid der Beklagten vom 01.08.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2020 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger mit dem Arzneimittel Translarna (Wirkstoff Ataluren) zu versorgen und die diesbezügliche Kostenübernahme zu erklären.
2. Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers beider Rechtszüge.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Versorgung mit dem Arzneimittel Translarna (Wirkstoff Ataluren).
Der am 2004 geborene Kläger leidet an einer Duchenne-Muskeldystrophie infolge einer sogenannten Nonsense-Mutation. Seit Ende 2015 ist er vollständig auf einen Rollstuhl angewiesen. Am 04.07.2019 beantragte die Mutter des Klägers für diesen die Kostenübernahme für das Medikament Translarna. Damals war der Kläger körperlich in der Lage, im Rollstuhl aufrecht zu sitzen und Schultern, Arme und Hände zu bewegen. Translarna (Wirkstoff Ataluren) ist in der Europäischen Union seit Juli 2014 als „Orphan Drug“ zur Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie infolge einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen bei gehfähigen Patienten im Alter ab zwei (bis Juli 2018: ab fünf) Jahren zugelassen; das Vorliegen einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen ist durch Gentest nachzuweisen. In Deutschland ist es als Import-Arzneimittel verfügbar. Einen Antrag des Herstellers auf Erweiterung der Zulassung auf Patienten, die nicht mehr gehfähig sind, versagte die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) am 28.06.2019. Auf den Antrag des Herstellers auf Überprüfung der Entscheidung bestätigte die EMA am 18.10.2019 die Versagung der Indikationserweiterung im Sinne einer Hinzunahme der Behandlung von Patienten mit Duchenne-Muskeldystrophie, die nicht mehr laufen können. Der Hersteller hatte Daten zum Nachweis vorgelegt, dass der Körper das Arzneimittel bei gehfähigen Patienten und bei nicht mehr gehfähigen Patienten in ähnlicher Weise verarbeitet. Darüber hinaus hatte der Hersteller die Ergebnisse einer Studie präsentiert, an der 94 Patienten mit Duchenne-Muskeldystrophie mit Nonsense-Mutation teilnahmen, von denen 44 nicht mehr laufen konnten. Obwohl das Hauptziel der Studie war, die Langzeitsicherheit von Translarna zu beurteilen, untersuchte die Studie außerdem die Wirksamkeit der Behandlung bei nicht mehr gehfähigen Patienten, indem Veränderungen in der Lungenfunktion gemessen wurden. Das Unternehmen verglich anschließend die Ergebnisse mit historischen Daten von Patienten mit Duchenne-Muskeldystrophie aus der Datenbank der CINRG (Cooperative International Neuromuscular Research Group). Die EMA führte zur Begründung der Versagung aus, die Tatsache, dass Translarna vom Körper bei gehfähigen Patienten und bei nicht mehr gehfähigen Patienten in ähnlicher Weise verarbeitet werde, sei nicht ausreichend, um die Wirksamkeit von Translarna bei diesen Patienten zu bestätigen. Denn nicht gehfähige Patienten befänden sich in einem weiter fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung und wiesen eine reduzierte Muskelmasse auf, so dass sich der Nutzen der Behandlung unterscheiden könne. Die zusätzlichen Daten aus der Studie könnten den Nutzen von Translarna bei nicht mehr gehfähigen Patienten auch nicht bestätigen, da Probleme bei der Art und Weise bestanden hätten, in der die Daten aus der Datenbank von CINRG, die für den indirekten Vergleich der Wirkung von Translarna verwendet wurden, ausgewählt und analysiert worden seien. Ein Überwiegen des Nutzens gegenüber den Risiken von Translarna bei nicht gehfähigen Patienten habe auch nach Überprüfung nicht festgestellt werden können (vgl. EMA vom 18.10.2019, EMA/565599/2019, EMEA/H/C/002720/II/0047; https://www.ema.europa.eu/en/ documents/ smop/ questions-answers-refusal-change-marketing-authorisation-translarna-ataluren_de. pdf). Am 25.06.2020 empfahl der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der EMA die Streichung der Aussage „Bei nicht gehfähigen Patienten wurde keine Wirksamkeit nachgewiesen“ aus der Fachinformation für Translarna. Diese Streichung hebe die Zulassungsbeschränkung nicht auf. Die aktu...