Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Klageerhebung in elektronischer Form. Übermittlung der eingescannten handschriftlich unterzeichneten Klageschrift als PDF-Datei ohne qualifizierte elektronische Signatur. Schriftformerfordernis. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Eingang am letzten Tag der Klagefrist. gestörte Telefax-Verbindung. gerichtliche Hinweispflicht. Einfache E-Mail. Rechtsbehelfsbelehrung
Orientierungssatz
1. Die ohne Verwendung einer qualifizierten elektronischen Signatur an das Gericht per E-Mail elektronisch übermittelte PDF-Datei einer eingescannten handschriftlich unterzeichneten Klageschrift genügt nicht dem Schriftformerfordernis nach § 90 SGG.
2. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl BGH vom 18.3.2015 - XII ZB 424/14 = MDR 2015, 533 und vom 15.7.2008 - X ZB 8/08 = NJW 2008, 2649) ist nicht auf die speziell geregelten Anforderungen im sozialgerichtlichen Verfahren übertragbar.
3. Ein Beteiligter kann nicht erwarten, dass die Prüfung der Formvorschriften unmittelbar nach Eingang eines Schriftstücks beim Sozialgericht erfolgt. Im Hinblick auf den übrigen Geschäftsanfall ist es nicht zu beanstanden, wenn diese Prüfung erst bei der Bearbeitung des Falls und damit nach Ablauf der Frist für die Zulässigkeit des Antrags erfolgt. Geht die einfache E-Mail mit der Klageschrift daher erst am letzten Tag der Klagefrist ein, ist das Sozialgericht nicht verpflichtet zu prüfen, ob die Klage ordnungsgemäß eingegangen ist, um erforderlichenfalls sofort durch entsprechende Hinweise auf die Behebung der Mängel hinzuwirken. Dies gilt auch, wenn dem Sozialgericht am Eingangstag bekannt ist, dass die Telefax-Verbindung des Gerichts gestört ist.
Normenkette
SGG a.F. § 65a Abs. 2 S. 3; SGG §§ 90, 66 Abs. 2 S. 1, § 67
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 23.11.2015 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die per E-Mail erhobene Klage die Klagefrist gewahrt hat und, falls dies nicht der Fall ist, ob der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war. In der Sache ist streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf höhere Unterkunftskosten hat.
Mit Bescheid vom 30.6.2014 und Widerspruchsbescheid vom 13.5.2015 lehnte die Beklagte einen Antrag der Klägerin auf höhere Unterkunftskosten teilweise ab. Der Widerspruchsbescheid wurde am 15.5.2015 an die Prozessbevollmächtigten der Klägerin, die die Klägerin auch im Widerspruchsverfahren vertreten haben, zum Zwecke der Zustellung gegen Empfangsbekenntnis zur Post gegeben. Mit Telefax vom 18.5.2015 beantragten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin unter Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid bei der Beklagten Kostenerstattung für das Verwaltungsverfahren. Am 18.6.2015 um 10.53 Uhr haben die Prozessbevollmächtigten per E-Mail (ohne elektronische Signatur) eine PDF-Datei mit eingescannter, unterschriebener Klageschrift an das Sozialgericht Speyer übersandt und vorgetragen, eine Übertragung des Schriftsatzes per Telefax sei aufgrund einer Störung des Empfangsgeräts nicht möglich gewesen. Die Verwaltung des Sozialgerichts hat bestätigt, dass es Leitungsprobleme gegeben habe. Am 19.6.2015 ging die Klageschrift auf dem Postweg ein.
Mit Gerichtsbescheid vom 23.11.2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Klage sei wegen Versäumung der Klagefrist unzulässig. Wie dem Telefax der Prozessbevollmächtigten vom 18.5.2015 zu entnehmen sei, habe Ihnen der Widerspruchsbescheid spätestens an diesem Tag vorgelegen. Die am 19.6.2015 schriftlich beim Sozialgericht eingegangene Klage sei daher verfristet. Die innerhalb der Klagefrist am 18.6.2015 beim Sozialgericht eingegangene einfache E-Mail mit als PDF-Datei angehängter Klageschrift stelle keine formwirksame Klageerhebung dar. Nach § 90 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei die Klage schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erheben. Die Klage sei auch nicht wirksam in elektronischer Form erhoben worden, weil es an der nach § 65a SGG in Verbindung mit § 2 Abs. 3 Landesverordnung über den elektronischen Rechtsverkehr in Rheinland-Pfalz (ERVLVO) vom 10.7.2015 (GVBl. 2015, 175) erforderlichen qualifizierten elektronischen Signatur fehle. Soweit der Bundesgerichtshof (Beschluss vom 18.3.2015 - XII ZB 424/14, Beschluss vom 15.7.2008 - X ZB 8/08) die Auffassung vertrete, eine per einfacher E-Mail übersandte, nicht signierte PDF- Datei genüge dem Formerfordernis, sei dem nicht zu folgen. Unter Berücksichtigung der für die Sozialgerichte geltenden Sonderregelungen in § 2 Abs. 3 ERVLVO sei diese Rechtsprechung nicht auf den vorliegenden Fall zu übertragen (Hinweis auf LSG Rheinland-Pfalz 4.6.2013 - L 6 AS 195/13 B; Bay. LSG 24.2.2012 - L 8 SO 9/12 B ER; B...