Leitsatz (amtlich)

1. Die „feindliche Maßnahme” im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO setzt nicht in jedem Fall voraus, daß bis Kriegsende zwischen dem Staat, in dem der Versicherte festgehalten wird, und dem damaligen deutschen Reich bestanden hat.

2. Hat sich ein tschechoslowakischer Staatsangehöriger nach Kriegsende 1945 in der CSSR zum Deutschtum bekannt, stellt seine deswegen erfolgte Inhaftierung in tschechoslowakischen Arbeitslagern eine „feindliche Maßnahme” dar.

3. Ein „Auslandsaufenthalt” im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO lag auch bei dem Verfolgten, der Angehöriger des ausländischen Staates ist, vor, wenn er Deutschland vor Kriegsende aus verfolgungsbedingten Gründen verlassen mußte und auch sein weiterer Aufenthalt im Ausland durch die Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen wurde.

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nrn. 3-4; BEG § 1

 

Verfahrensgang

SG Speyer (Urteil vom 02.12.1974; Aktenzeichen S 9 J 401/74)

 

Tenor

1. Das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 2. Dezember 1974 wird insoweit geändert, als die Beklagte zur Anerkennung einer Ersatzzeit auch vom 16. März 1950 bis 24. Juli 1950 verpflichtet worden ist; insoweit wird die Klage abgewiesen.

2. Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

3. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Beim Streit über die Höhe des Altersruhegeldes des Klägers geht es darum, ob die Zeit vom 16. März 1945 bis 24. Juli 1950 als Ersatzzeit anzurechnen ist (§ 1251 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung – RVO).

Der Kläger ist 1908 in – damals zu Deutschland gehörendem – H./Lothringen (jetzt H./Frankreich) geboren. Sein Vater stammte aus dem damaligen Österreich-Ungarn, seine Mutter aus Luxemburg. Seinem Vorbringen nach erlernte der Kläger in N. das Malerhandwerk, arbeitete als Malergeselle später in Frankreich und Belgien sowie zuletzt bis Mai 1942 in Deutschland und war anschließend wegen jüdischer Abstammung in Konzentrationslagern. Nachdem er 1950 aus der CSSR in die Bundesrepublik gekommen war, nahm er am 25. Juli desselben Jahres wieder eine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit auf.

Die Beklagte gewährte ihm ab 1. April 1971 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheide vom 25. Januar 1972, 9. April 1973 und 2. Januar 1974). Mit Wirkung ab 1. September 1973 wandelte sie die Rente in Altersruhegeld um (Bescheid vom 18. April 1974).

Im Klageverfahren hat der Kläger u.a. geltend gemacht: Seit Mai 1942 sei er als Jude in verschiedenen Gettos und im Konzentrationslager Auschwitz inhaftiert gewesen. Im April 1945 sei er im Lager B. befreit und in die CSSR transportiert worden, von wo aus er nach Deutschland habe zurückkehren wollen. Die tschechischen Behörden hätten das jedoch nicht gestattet, sondern ihn inhaftiert, weil er als Deutscher gegolten habe. Erst im März 1950 seit ihm die Flucht in die Bundesrepublik gelungen.

Das Sozialgericht Speyer hat der Klage stattgegeben und die Beklagte verpflichtet, die Zeit vom 16. März 1945 bis 24. Juli 1950 als Ersatzzeit anzurechnen und höhere Rente zu zahlen (Urteil vom 2. Dezember 1974). Es hat u.a. ausgeführt: Die Angabe des Klägers im Entschädigungsverfahren, er sei tschechischer Staatsangehöriger, stehe der Anerkennung der Ersatzzeit nicht entgegen. Es habe in jener Zeit Umstände gegeben, die zu einer Notlüge gezwungen hätten, um die Entschädigung schneller zu bekommen. Der Kläger sei unzweifelhaft Naziverfolgter. Die Auffassung der Beklagten, er habe als tschechischer Staatsangehöriger von Rechts wegen nicht aus der CSSR ausreisen dürfen, habe er überzeugend widerlegt. Er habe vorgetragen, man habe ihn in Straf- und Arbeitslagern aufgenommen, weil er als Deutscher angesehen worden sei. Dies jedoch sei ausschlaggebend, um den ursächlichen Zusammenhang für den zwangsweisen Verbleib in der CSSR von 1945 bis 1950 zu bejahen, so daß dem Kläger die Vergünstigung des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO zuzuerkennen sei.

Mit der Berufung trägt die Beklagte u.a. vor: Die Zeit von 1945 bis 1950 sei keine Ersatzzeit. Es könne sich schon begrifflich nicht um einen Auslandsaufenthalt im Sinn des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO gehandelt haben, da sich der Kläger als tschechischer Staatsangehöriger in der CSSR aufgehalten habe. Bis zum Verlassen der CSSR im März oder April 1950 sei er niemals deutscher Staatsangehöriger, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tschechoslowakischer Bürger gewesen. Auch seien die Voraussetzungen des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO nicht erfüllt. Es werde bestritten, daß der Kläger deutscher Volkszugehöriger gewesen und aus dem Grund an der Ausreise aus der CSSR gehindert worden sei. Vielmehr sei davon auszugehen, daß andere, bisher nicht bekannt gewordene, eventuell politische Gründe zu der Unterbringung in den Arbeitslagern K. und P. geführt hätten. Möglicherweise habe die erneute Inhaftierung im Zusammenhang mit dem Militärgerichtsverfahren 1932 gestanden. Daß der Kläger bisher nicht bewiesen oder ausreichend glaubh...

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