Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. unangemessene Verfahrensdauer. sozialgerichtliches Verfahren. kein Evidenzkriterium für die Einstufung als "unangemessen". keine Anlehnung an Durchschnittswerte. phasenweise Untersuchung der einzelnen Verfahrensabläufe mit jeweils eigener Abwägungsentscheidung. Gesamtbewertung nach Addition mehrfach unangemessener Verzögerungen
Orientierungssatz
1. Ein Evidenzkriterium in dem Sinne, dass eine bestimmte Verfahrensdauer schon von vornherein als unangemessen eingestuft werden muss, gibt es bei der Anwendung des § 198 GVG nicht. Auch eine Anlehnung an die übliche, regelmäßige Dauer eines gerichtlichen Verfahrens unter Berücksichtigung der Durchschnittswerte nach den jeweiligen Justizstatistiken kommt nicht in Betracht.
2. Bei der Prüfung der Angemessenheit einer Verfahrensdauer sind die verschiedenen Phasen eines Verfahrens daraufhin zu untersuchen, ob das Gericht dem Anspruch der Betroffenen auf effektiven Rechtsschutz gerecht geworden ist. Anhand einer Chronologie der Verfahrensabläufe ist unter Zugrundelegung der maßgeblichen Kriterien bezogen auf die einzelnen Verfahrensphasen jeweils eine Abwägungsentscheidung zu treffen. Hat sich bei der Betrachtung der einzelnen Verfahrensabschnitte mehrfach eine unangemessene Verzögerung ergeben, sind diese Intervalle zur Bestimmung der gesamten unangemessenen Dauer zu addieren.
Nachgehend
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
4. Der Streitwert wird auf 2.600 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens gemäß § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG).
Die im Jahre 1975 geborene Klägerin leidet an der autosomal-rezessiven erblichen Erkrankung "Ataxia teleangiectatica" (Louis-Bar-Syndrom).
Am 23.02.2009 erhob die Klägerin - damals vertreten durch ihren Vater - Klage zum SG Speyer und stellte dabei folgende Anträge:
1. Die A wird verpflichtet, unverzüglich den Antrag vom 14.11.2008 (Pflege bei der Hippotherapie) mit Ergänzungen vom 18.11.2008 und 16.12.2008 in gesetzeskonformer Weise zu bescheiden und die beantragte Leistung zu erbringen.
2. Die A wird verpflichtet, unverzüglich den Antrag vom 15.11.2008 (Behandlungspflege) mit Ergänzungen vom 13.12.2008 und 03.01.2009 in gesetzeskonformer Weise zu bescheiden und die beantragte Leistung zu erbringen.
3. Die A wird verpflichtet, unverzüglich den Antrag vom 19.11.2008 (Fristsetzung Behandlungspflege) in gesetzeskonformer Weise zu bescheiden und die beantragte Leistung zu erbringen.
4. Die A wird verpflichtet, unverzüglich den Antrag vom 06.02.2009 (Auskunft) in gesetzeskonformer Weise zu bescheiden und die beantragte Leistung zu erbringen.
Das Klageverfahren nahm daraufhin - im Wesentlichen - folgenden Verlauf (die Daten geben den Eingang bzw. den Tag der Bearbeitung beim Sozialgericht an):
- 22.04.2009 Klageerwiderung der A.
- 12.05.2009 Weitere Begründung der Klage durch den Vertreter der Klägerin (Vater).
- 12.05.2009 Verfügung des Gerichts: zur Frist (17.06.2009).
- 18.06.2009 Verfügung des Gerichts: Wiedervorlage 31.08.2009.
- 28.08.2009 Verfügung des Gerichts: Wiedervorlage 30.10.2009.
- 30. 09.2009 Schreiben des Vertreters der Klägerin mit dem Hinweis auf die lebensbedrohliche oder sogar regelmäßig tödliche Erkrankung der Klägerin und Übersendung eines sozialmedizinischen Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Rheinland-Pfalz vom 22.02.2007.
-01.10.2009 Verfügung des Gerichts: Mitteilung an Klägervertreter, dass das Gutachten des MdK zu allen laufenden Verfahren der Klägerin in der 7. Kammer genommen wurde. Weitere Verfügung: Zum Termin bleibt.
- 27.10.2009 Übersendung von zehn weiteren Gutachten durch den Vertreter der Klägerin um dem Gericht einen akzeptablen Überblick über die Behinderung der Klägerin zu geben.
- 18.11.2009 Verfügung des Gerichts: zum Termin bleibt.
- 18.01.2010 Verfügung des Gerichts: zum Termin.
- 25.01.2010 Die Beklagte übersendet ein in ihrem Auftrag nach Aktenlage erstelltes Gutachten von Prof. Dr. Dr. J R vom 30.10.2009 über die mangelnde Prozessfähigkeit des Bevollmächtigten der Klägerin.
- 01.02.2010 Antrag des Vertreters der Klägerin, dass "dem Gesetzesbrecher M F (Vertreter der Beklagten) seine gesetzwidrige Handlungen untersagt werden". Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe.
- 10.02.2010 Antrag des Vertreters der Klägerin, den Vorsitzenden der 7. Kammer aus allen Verfahren der Klägerin auszuschließen (24 Klageverfahren bei der 7. Kammer).
- 12.03.2010 Dienstliche Äußerung des Kammervorsitzenden und Übersendung der Akten an das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zur Entscheidung.
- 23.03.2010 Beschluss des Landessozialgerichts über die Ablehnung des Befangenheitsantrags wegen Unzulässigkeit.
- 07.05.2010 Verfügung des Gerichts: die vo...