Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfolgung. Verfolgungsgründe. Verfolgungsmaßnahmen. Bundesentschädigungsgesetz. Arbeitslosigkeit. Arbeitsbereitschaft

 

Leitsatz (amtlich)

Wer in der NS-Zeit aus rassischen Gründen als Jude/Halbjude vom Schulbesuch ausgeschlossen wurde, war aus den selben Gründen anschließend grundsätzlich auch verfolgungsbedingt arbeitslos (Anscheinsbeweis), so daß diese Zeit als Ersatzzeit in Betracht kommt. Voraussetzung ist nur, daß der Versicherte arbeitsfähig und arbeitswillig war, wobei es für die Annahme der Arbeitswilligkeit genügt, daß der Versicherte sie ernsthaft behauptet und ihr keine eindeutigen Umstände entgegenstehen.

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 4; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4; RKG § 51 Abs. 1 Nr. 4

 

Verfahrensgang

SG Koblenz (Urteil vom 13.07.1983; Aktenzeichen S 2 A 3/83)

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 26.06.1985; Aktenzeichen 12 RK 12/84)

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 13. Juli 1983 und der Bescheid der Beklagten vom 23. August 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Dezember 1982 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, die Zeit vom 20. Oktober 1942 bis zum 8. Mai 1945 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG im Versicherungsverlauf des Klägers im Rahmen der Angestelltenversicherung vorzumerken.

2. Die Beklagte hat die dem Kläger in beiden Rechtszügen entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Vormerkung einer verfolgungsbedingten Arbeitslosigkeit als Ersatzzeit.

Der 1924 geborene Kläger ist Halbjude (sogen. Mischling 1. Grades) und wurde deswegen aus rassischen Gründen am 20. Oktober 1942 vom Gymnasium verwiesen. Er lebte anschließend bei verschiedenen Familien sowie zeitweise in Hotels und Pensionen, um nicht entdeckt zu werden. Ab 1. Oktober 1945 besuchte er erneut das Gymnasium, das er am 25. Februar 1946 mit dem Reifezeugnis (Reifevermerk) verließ. Wegen Schadens in der Berufsausbildung erhielt er eine Entschädigung von insgesamt 10.000,– DM (Bescheide des Bezirksamts für Wiedergutmachung in Koblenz vom 13. März 1956 und 24. November 1965). Eine Entschädigung wegen Freiheitsentziehung oder Freiheitsbeschränkung (Leben in der Illegalität) wurde ihm dagegen versagt (Bescheid vom 24. November 1954).

Die Beklagte lehnte die Anerkennung der Zeit von 1942 bis 1945 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG (Freiheitsbeschränkung oder Arbeitslosigkeit) durch Bescheid vom 23. August 1982 und Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 1982 ab, weil der Kläger in dieser Zeit nicht unter menschenunwürdigen Bedingungen gelebt habe und auch nicht zu einer Erwerbstätigkeit bereit gewesen sei.

Mit der gleichen Begründung hat das Sozialgericht Koblenz die Klage durch Urteil vom 13. Juli 1983 abgewiesen.

Gegen das am 2. August 1983 zugestellte Urteil hat der Kläger am 25. August 1983 die Berufung eingelegt.

Er wiederholt im wesentlichen sein früheres Vorbringen: Es treffe nicht zu, daß er nicht arbeitsbereit gewesen sei. Wegen seiner Behinderung – linksseitige Lähmungserscheinungen – habe er keine körperlichen Arbeiten, sondern nur Bürotätigkeiten verrichten können. Er habe aber keine Beschäftigung gefunden. Es sei kein Arbeitgeber bereit gewesen, ihn als Halbjuden zu beschäftigen. Schließlich hatte bei einer Einstellung sowohl der Arbeitgeber als auch er selbst riskiert, verhaftet zu werden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 13. Juli 1983 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. August 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheide vom 2. Dezember 1982 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, in seinen Versicherungsverlauf die Zeit vom 20. Oktober 1942 bis zum 8. Mai 1945 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG vorzumerken.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Tatbestands wird auf den Inhalt der Prozeßakte und der Verwaltungsakte der Beklagten (…) sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Bezirksamts für Wiedergutmachung in Koblenz (…) Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.

Der Kläger hat gegen die Beklagte Anspruch auf Vormerkung der geltend gemachten Zeit vom 20. Oktober 1942 bis zum 8. Mai 1945 als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG. Der Kläger vor in dieser Zeit aus Verfolgungsgründen arbeitslos gewesen.

Der Kläger hat nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) eine Entschädigung tragen Schadens in der Berufsausbildung (Schaden in seinem beruflichen Fortkommen) erhalten und ist somit Verfolgter im Sinne des § 1 BEG. Diese Entschädigung steht der Anerkennung der Zeit nach der verfolgungsbedingten Entfernung vom Gymnasium als Ersatzzeit in der Rentenversicherung nicht entgegen. Es handelt sich um verschiedene selbständige Ansprüche. Durch eine BEG-Entschädigung wird ein Schaden in der Sozialversicherung nicht abgegolten. Das ergibt sich eindeutig schön daraus, daß die Entschädigungstatbestände nach §§ 43, 47 BEG (Freiheitsentziehung bzw. Freiheitsbeschrä...

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