Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Übernahme der Kosten für eine Zweitkamera ≪sog Tafelkamera≫ für einen Sehbehinderten. Abgrenzung zum Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung
Leitsatz (amtlich)
Ein Sehbehinderter hat im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 54 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB 12 Anspruch auf Versorgung mit einer Zweitkamera für ein Bildschirmlesegerät (Tafelkamera), wenn diese erforderlich und geeignet ist, ihm den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern.
Orientierungssatz
Eine zweite Kamera zur Ergänzung eines vorhandenen Bildschirmlesesystem ist als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen. Der Umstand, dass Sehbehinderte die Kamera in Verbindung mit einem vorhandenen Kameralesesystem nutzen, rechtfertigt nicht die Einstufung als Hilfsmittel.
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 14.01.2010 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte verurteilt wird, die Kosten für eine zweite Kamera zur Ergänzung des vorhandenen Bildschirmlesesystems im Rahmen der Eingliederungshilfe zu übernehmen.
2. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Kosten des Beigeladenen sind nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit der Kamera "Sony EVI-D70" im Rahmen eines vorhandenen Kameralesesystems.
Bei der 1998 geborenen Klägerin, die bei der Beklagten krankenversichert ist, besteht eine an Blindheit grenzende hochgradige Sehschwäche. Sie besucht seit Beginn des Schuljahres 2009/2010 die Wschule G ("Realschule plus") und ist mit einem mobilen Bildschirmlesegerät "Clearnote" der Firma T. mit einer schwenkbaren Tafelkamera zur Darstellung von Tafel und Textbild versorgt. Mit Schreiben vom 10.11.2008 beantragte sie bei dem Beigeladenen die Gewährung von Eingliederungshilfe zur Finanzierung einer Tafelkamera. Sie legte einen Arztbrief des Augenarztes Dr. G vom 02.07.2008 vor, in der der Visus mit eigener Brille rechts mit 1/20 und links mit 0,05 angegeben wird. Beigefügt waren ein Kostenvoranschlag der Firma E. GmbH für die "Tafelkamera Sony EVI-D70" zum Preis von 1.299,48 € und ein Angebot für die Installation der Tafelkamera in Höhe von 535,50 € sowie ein Kostenvoranschlag der Firma T. für eine "EVI-Kamera Pan Tilt" einschließlich Installation und Grundeinweisung in Höhe von 2.401,42 €. Mit Schreiben vom 19.11.2008 leitete der Beigeladene das Schreiben an die Beklagte weiter und führte aus, nach Rücksprache mit der Klägerin handele es sich nicht um eine stationäre Tafelkamera. Beantragt werde eine mobile Kamera mit Schwenk-, Neige- und Zoom-Funktion. Hiermit wäre erst die vollständige Aufzeichnung aller Unterrichtsmaterialien, z.B. geographischer Karten, Bücher, Zeichnungen, möglich. Diese mobile und schwenkbare Kamera stelle gegenüber der bereits installierten stationären Tafelkamera ein neues Hilfsmittel dar und falle in den Leistungskatalog der Beklagten. Auf Grund des Nachranggrundsatzes der Sozialhilfe nach § 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) werde der Antrag gemäß § 14 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) weitergeleitet. Mit Bescheid vom 25.11.2008 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab und wies darauf hin, dass sie der Klägerin am 08.12.2004 ein Bildschirmlesegerät für zu Hause leihweise bewilligt und sich am 19.10.2005 an den Kosten einer Tafelkamera analog eines herkömmlichen Bildschirmlesegerätes in Höhe von 2.030,00 € für den Schulbesuch beteiligt habe. Bei dem vorhandenen Clearnote handele es sich um ein mobiles Tafelkamerasystem. Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin ein Schreiben des Förderschullehrers W., Landesschule für Blinde und Sehbehinderte, vom 06.12.2008 vor, der mitteilte, die Klägerin, die zu diesem Zeitpunkt noch die Grundschule besuchte, sei auf starken Kontrast und gute Beleuchtung angewiesen. Das Clearnote sei ausgewählt worden, da es ausbaufähig für die weiterführende Schule sei. Es beständen Anschlussmöglichkeiten für ein Notebook und für eine eigene Tafelkamera. Auf dem Notebook lasse sich das Kamerabild darstellen und zur Weiterbearbeitung speichern. Das Bildschirmlesegerät Clearnote habe eine Schwenkkamera für die abwechselnde Darstellung von Tafel- und Textbild. Für die Grundschule sei diese Möglichkeit ausreichend. Auch aus Kostengründen sei ein Zweikamerasystem nicht beantragt worden. Auf Grund der steigenden Textfülle und der zunehmenden Anforderung an die Arbeitsgeschwindigkeit sei die Klägerin künftig auf die zweite Kamera angewiesen, um dem Unterricht ohne großen Zeitverlust folgen zu können. Die Sony EVI Kamera habe eine eigene Fernbedienung zur Steuerung von Zoom und Schwenkrichtung. Die Clearnotekamera lasse sich per Knopfdruck leicht umschalten. Die Beklagte holte eine sozialmedizinische Stellungnahme bei Dr. F, Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Rheinland-...