Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. sexueller Missbrauch in der Kindheit. posttraumatische Belastungsstörung. ursächlicher Zusammenhang. Glaubhaftigkeitsgutachten. Verhaltensbeobachtung nicht ausreichend. reale Erinnerungen erforderlich
Leitsatz (amtlich)
1. Ein grundsätzlich nachzuweisender sexueller Missbrauch in der Kindheit als Voraussetzung eines Anspruchs nach dem OEG kann nicht durch das Stellen psychiatrischer Diagnosen ersetzt werden.
2. Das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs kann unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 KOV-VfG (juris: KOVVfG) angenommen werden, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Dies kann ggf durch ein sog Glaubhaftigkeitsgutachten aufgeklärt werden.
3. Dabei reicht eine einfache Verhaltensbeobachtung nicht aus, da eine reale Erinnerung im Verhalten bei der Begutachtung zum gleichen Ergebnis bei Scheinerinnerungen führt.
4. Ein direkter Rückschluss von Trauminhalten auf eine tatsächlich erlebte Realität ist aussagepsychologischen Aspekten nicht zulässig.
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Koblenz vom 11.04.2013 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Die im Jahr 1974 geborene Klägerin beantragte im März 2009 die Gewährung von Versorgung nach dem OEG. Sie gab an, sie sei von ihrem 6. bis zum 16. Lebensjahr von ihrem Stiefvater M B B sexuell missbraucht und geschlagen worden. Daher beständen bei ihr eine emotionale instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline), Angststörung, Angst vor Männern, die wie ihr Stiefvater aussehen würden, Essstörung und Depressionen.
Der Beklagte zog die Unterlagen eines Schwerbehindertenverfahrens der Klägerin bei. Nach dem Schwerbehindertenrecht ist durch Bescheid des Amts für soziale Angelegenheiten Koblenz vom 15.08.2005 ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 wegen einer seelischen Behinderung (GdB 40) und degenerativer Wirbelsäulenveränderung (GdB 10) festgestellt. Sodann zog der Beklagte Unterlagen eines Rentenverfahrens von der Deutschen Rentenversicherung Bund bei, holte Auskünfte der Mutter der Klägerin sowie einer ehemaligen Lehrerin, Frau E R , ein. Die Mutter der Klägerin, S B , teilt mit, sie bestätige den Missbrauch ihrer Tochter durch ihren geschiedenen Mann, B B . Direkte Einzelheiten könne sie aber nicht nennen, da er es immer in ihrer Abwesenheit getan haben müsse. Details könne daher nur die Klägerin schildern. Frau R teilte mit, die Klägerin habe ihr während der Schulzeit erzählt, sie habe Angst vor ihrem Stiefvater. Erst Jahre später habe die Klägerin sich ihr offenbart. Ein Ermittlungsverfahren gegen den Schädiger wurde durch Verfügung der Staatsanwaltschaft Dresden nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, da die Taten verjährt seien.
Mit Bescheid vom 20.10.2012 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Die von der Klägerin geschilderten Gewalttaten hätten sich zwischen 1980 bis 1990 ereignet, so dass § 10a OEG anzuwenden sei. Trotz umfangreicher Sachaufklärung habe der Nachweis nicht erbracht werden können, dass die Klägerin Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden sei. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.02.2011 zurück.
Im vor dem Sozialgericht Koblenz durchgeführten Klageverfahren hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H . Der Sachverständige hat die Klägerin im Oktober 2011 untersucht und ist im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin beständen eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode, komplexe posttraumatische Belastungsstörung mit traumaassoziierter Borderline-Persönlichkeitsstörung und sonstige somatoforme Störung. Es bestehe eine Identitätsstörung mit einer andauernden und ausgeprägten Instabilität des Selbstbildes. Der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung lägen nicht nur lange Zeit einwirkende Traumatisierungen, sondern auch ein Beziehungstrauma zugrunde. Die posttraumatische Belastungsstörung mit den dazu gehörigen traumaassoziierten Störungen sei wahrscheinlich auf den im Zeitraum 1979 bis 1990 erfolgten sexuellen Missbrauch zurückzuführen. Die Krankheitsbilder führten zu einer mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeit, da es zwar eheliche Probleme gebe, nicht jedoch Kontaktverlust oder affektive Nivellierung oder Isolierung oder sozialen Rückzug. Die Gesundheitsstörung sei mit einem GdS von 40 zu bewerten.
Mit Gerichtsbescheid vom 11.04.2013 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe kein Anspruch auf Leistungen nach dem OEG...