Entscheidungsstichwort (Thema)
Opferentschädigung. gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr. unbekannter Täter. tätlicher Angriff. Nachweis. schwere Gesundheitsschädigung
Orientierungssatz
1. Zum Anspruch auf Opferentschädigung wegen der gesundheitlichen Folgen eines nächtlichen Sturzes in einen Straßengully, dessen Deckel unbekannte Täter entfernt hatten.
2. Erforderlich für das Vorliegen eines Angriffs iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG ist eine "unmittelbar auf den Körper eines anderen gerichtete" Einwirkung. Das Entfernen eines Gullydeckels - auch wenn damit die Verursachung einer Körperverletzung billigend in Kauf genommen wird - stellt keine unmittelbar auf den Körper eines anderen gerichtete Gewalttat dar.
3. In Literatur und Rechtsprechung besteht Einigkeit darüber, dass der Begriff der "schweren Gesundheitsschädigung" im Sinne des § 315 Abs 3 Nr 2 StGB zumindest alle Gesundheitsschädigungen umfasst, die in § 226 Abs 1 StGB (schwere Körperverletzung) aufgezählt sind. Hierzu gehören der Verlust des Sehvermögens - zumindest auf einem Auge -, der Verlust des Gehörs, des Sprechvermögens oder der Fortpflanzungsfähigkeit, der Verlust oder die dauernde Gebrauchsunfähigkeit eines wichtigen Körpergliedes sowie der Verfall in Siechtum, Lähmung, geistige Krankheit oder Behinderung.
4. Der Begriff der "schweren Gesundheitsschädigung" ist jedoch weiter als derjenige der schweren Körperverletzung. Erfasst werden über die og Schädigungen hinaus auch Fälle, bei denen intensiv-medizinische Maßnahmen zur Lebensrettung notwendig waren oder umfangreiche und langwierige Rehabilitationsmaßnahmen zur Wiederherstellung der Gesundheit durchgeführt wurden. Unter Berücksichtigung der in § 226 Abs 1 StGB genannten Gesundheitsschädigungen sowie der in der Gesetzesbegründung zu § 315 Abs 3 Nr 2 StGB genannten Erweiterung (ernste langwierige Krankheit, erhebliche Beeinträchtigung der Arbeitskraft) ist eine dauerhafte und erhebliche Erkrankung oder Behinderung zu fordern.
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die im Jahre 1945 geborene Klägerin befand sich am 10.05.1998 gegen 1.30 Uhr auf dem Nachhauseweg von einer Feier in Bad S. Gemeinsam mit ihrem Ehemann ging sie auf dem Gehweg der B Straße in Richtung B Straße. Unmittelbar nach der Gaststätte "Kupferkanne" wollten die Eheleute die B Straße überqueren, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Die Klägerin schritt als erste auf die Fahrbahn. Dabei trat sie völlig unerwartet mit dem linken Fuß in ein unmittelbar am Straßenrand gelegenes Loch. Infolge der Dunkelheit hatte sie nicht erkannt, dass der 46 cm mal 46 cm große Gullydeckel eines Wasserabflusses entfernt worden war. Bei dem Sturz erlitt die Klägerin einen komplizierten Trümmerbruch des linken Unterschenkels, der vom 10.05. bis 16.06.1998 stationär im Diakonie-Krankenhaus der Stadt K behandelt wurde. Die herbeigerufenen Polizeibeamten konnten den Gullydeckel ca fünf m von seinem Bestimmungsort entfernt im hohen Gras neben der Fahrbahn auffinden. Eine Überprüfung der näheren Umgebung ergab, dass in der R ein weiterer Gullydeckel aus seiner Verankerung herausgehoben worden war. Das eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß § 315 b Strafgesetzbuch (StGB) wurde gemäß § 170 Abs 2 Strafprozessordnung (StPO) eingestellt, da Täter nicht ermittelt werden konnten.
Am 17.(23.)06.1998 stellte die Klägerin einen Antrag auf Gewährung von Beschädigten-Versorgung nach dem OEG. Die Versorgungsverwaltung zog die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach bei und holte eine Auskunft der AOK (Regionaldirektion Bad Kreuznach) über Vorerkrankungszeiten der Klägerin ein.
Mit Bescheid vom 22.10.1998 lehnte der Beklagte die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Versorgung ab. Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs 1 OEG habe nicht vorgelegen. Zwar stehe gemäß § 1 Abs 2 OEG einem tätlichen Angriff gleich die Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines Anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen. Ein Verbrechen sei im vorliegenden Fall indessen nicht nachgewiesen. Das Entfernen des Gullydeckels durch die unbekannten Täter sei strafrechtlich als gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315 b StGB zu werten. Die Tat sei jedoch nicht in jedem Fall ein Verbrechen. Verbrechen seien Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bestraft würden. Ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr werde gemäß § 315 b Abs 3 StGB nur dann mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bestraft, wenn der Täter in der Absicht gehandelt habe, einen Unfall zu verursachen. Absicht sei eine gesteigerte Form des Vorsatzes. Für den vorliegenden Fall bedeute dies, dass es dem Täter darauf habe ankommen...