Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Persönliches Budget. Widerruf für die Vergangenheit wegen nicht hinreichend nachgewiesener zweckentsprechender Verwendung der Budgetmittel
Orientierungssatz
1. Zur Anwendbarkeit von § 47 SGB 10 im Sozialhilferecht (hier: Widerruf eines Verwaltungsakts über die Bewilligung eines persönlichen Budgets für die Vergangenheit wegen nicht hinreichend nachgewiesener zweckentsprechender Verwendung der Budgetmittel).
2. Der Budgetnehmer ist gegenüber dem Budgetgeber für die zweckentsprechende Verwendung der Leistung beweispflichtig.
3. Kenntnis iS des § 47 Abs 2 S 5, § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 bedeutet die hinreichende Sicherheit für den Erlass eines Rücknahmebescheides. Die Jahresfrist beginnt in aller Regel frühestens mit der Anhörung des Begünstigten.
4. Der Widerruf steht im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde (vgl § 39 SGB 1). Das Ermessen ist entsprechend dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung auszuüben, der im Rahmen des § 47 Abs 2 SGB 10 darin besteht, eine dauerhafte Fehlleistung öffentlicher Mittel zu verhindern.
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 03.04.2019 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Bescheides, mit dem der Beklagte seinen Bewilligungsbescheid über die Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen in Form des persönlichen Budgets widerrufen und den Kläger zugleich aufgefordert hat, die im Bewilligungszeitraum von September 2012 bis Mai 2015 ausgezahlten Leistungen in Höhe von 250.800,00 € zu erstatten.
Der 2003 geborene Kläger leidet an einer Lissenzephalie Typ I (durch eine Genmutation bewirkte, unvollständige Entwicklung des Gehirns). Er ist deshalb in seiner Entwicklung erheblich verzögert und auf einen Rollstuhl angewiesen. Er leidet zudem unter Epilepsie, verbunden mit Krampfanfällen. Bei ihm sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen „aG“, „G“, „B“ und „H“ festgestellt. Bei seiner Geburt wurde ihm eine Lebenserwartung von drei bis vier Lebensjahren prognostiziert. Ab Dezember 2008 erhielt der Kläger Pflegegeld nach der Pflegestufe III von der Pflegekasse und ab dem 01.10.2015 Pflegegeld als Härtefall nach der Pflegestufe III. Inzwischen ist er in den Pflegegrad 5 eingestuft. Er lebt im Haushalt seiner Eltern, die seine gesetzlichen Vertreter sind. Zunächst wurde er zu Hause hauptsächlich von seiner Mutter betreut, der Vater des Klägers, ein Berufssoldat, arbeitete zunächst an zwei bis drei Tagen pro Woche zu Hause, an den übrigen Wochentagen an seinem Dienstort.
Der Beklagte gewährte dem Kläger ab Januar 2008 unterschiedliche Eingliederungshilfeleistungen nach dem Sechsten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung; im Folgenden a.F.; Mobilitätsbudget, behindertengerechter Umbau des Hauses und der Außenanlagen, Beteiligung an den Kosten eines behindertengerechten Kfz und ein persönliches Budget für die Inanspruchnahme ambulanter Pflege- und Betreuungsleistungen). Die Eingliederungshilfeleistungen in Form des persönlichen Budgets für die Unterstützung der Eltern bei der ambulanten Betreuung des Klägers wurden durch Bewilligungsbescheide vom 02.12.2009 und 21.06.2010 erhöht und ab Juli 2010 in Höhe von monatlich 3.310,00 € gewährt.
Im Jahr 2010 wurde der Verein L e.V. mit Sitz in 5 V gegründet, der Vater des Klägers ist Mitgründer. Der Verein unterstützt Familien mit behinderten Kindern bzw. Familienangehörigen. Er ist im Vereinsregister des Amtsgerichts Montabaur eingetragen. Weiter sind darin die Einzelvertretungsbefugnis des Vaters des Klägers (als 1. Vorsitzender) und die Einzelvertretungsbefugnis des 2. Vorsitzenden publiziert. Ferner wurde ein Bundesverband L e.V. mit Sitz in 5 V gegründet.
Die Eltern des Klägers beantragten im Juli 2012 bzw. August 2012 die Erhöhung des persönlichen Budgets, da der Vater des Klägers nicht mehr von zu Hause aus arbeiten könne, eine Überwachung des Klägers in der Nacht notwendig sei, die gesamte Pflege von seiner Mutter übernommen worden sei und beabsichtigt sei, in Zukunft sowohl Fachkräfte als auch Nichtfachkräfte zu engagieren.
Im August 2012 fand ein Teilhabegespräch zwischen Mitarbeitern des Beklagten und dem Vater des Klägers statt. In diesem Gespräch äußerte der Vater des Klägers, dass er sich vorstellen könne, mit dem persönlichen Budget in Höhe von monatlich 7.750,00 € den Bedarf des Klägers decken zu können. Er denke inzwischen darüber nach, nicht selbst als Arbeitgeber tätig zu werden, sondern alle Leistungen über den Verein L e.V. laufen zu lassen. Gegebenenfalls werde der Verein geeignete Arbeitskräfte einstellen, die nur für seinen Sohn tätig würden und zusätzlich würden weitere Arbeitskräfte des Ver...