Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersatzzeit. Rückkehrverhinderung. Feindliche Maßnahme. Wolgadeutscher. Verschleppung nach Kasachstan. Zeitpunkt der Beendigung
Leitsatz (amtlich)
Für ehemalige Wolgadeutsche, die bereits 1931 aufgrund innerstaatlicher Maßnahmen nach Kasachstan verbracht wurden, und ihre in Kasachstan geborenen Kinder, die nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges in Kasachstan interniert wurden, endet die Ersatzzeit nach § 51 Abs 1 Nr 3 RKG bereits mit Aufhebung der Internierung und nicht erst mit der späteren Ausreise in die Bundesrepublik.
Verfahrensgang
SG Koblenz (Urteil vom 27.10.1993; Aktenzeichen S 5 Kn 30/93) |
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 27.10.1993 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Mit ihrer Berufung begehrt die Klägerin weiterhin Neufeststellung ihrer Rente unter Berücksichtigung der Zeit vom 1.4.1956 bis 9.3.1988 als Ersatzzeit nach § 51 Abs. 1 Nr. 3 RKG, soweit keine oder nur gekürzte Beitragszeiten angerechnet sind.
Die Klägerin ist am … 1938 in …, Karaganda/Kasachstan, geboren. Ihre Eltern waren ursprünglich Wolgadeutsche. Sie waren aber schon 1931 aus dem deutschen Wolgagebiet zum Aufbau neuer Kohlegruben nach Kaschastan verbracht worden. Nach Angaben der Klägerin erfolgte die Verschleppung ihrer Eltern vermutlich wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der sogenannten Kulaken, die sich der Zwangskollektivierung widersetzten. In Karaganda seien etwa 500.000 (ca 10 % der Bevölkerung) und in M. etwa 80 % der Bevölkerung Deutsche gewesen. Innerhalb der Familie und mit Nachbarn habe man deutsch gesprochen. Bei Behörden, in Geschäften und in der Schule sei nur russisch gesprochen worden.
In der Zeit von November 1941 bis März 1956 war die Klägerin zusammen mit ihren Eltern als Deutsche interniert (Kommandanturaufsicht). Danach arbeitete sie mit Unterbrechungen bis Februar 1988 überwiegend im kasachstanischen Kohlebergbau. Sie hat dort 1961 zum ersten Mal und 1987 zum zweiten Mal geheiratet. Aus der ersten Ehe hat sie zwei Söhne. Am 10.3.1988 kam sie als Aussiedlerin in die Bundesrepublik. Sie ist Inhaberin eines Vertriebenenausweises A.
Auf Antrag vom 5.5.1989 gewährte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 18.12.1989 Bergmannsrente aufgrund der ab Mai 1956 zu berücksichtigenden Beitragszeiten. Diese Rente ruhte wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld zunächst. Nach Einstellung des Arbeitslosengeldes kam sie aber ab 6.1.1991 in voller Höhe von damals 405,10 DM zur Auszahlung.
Im November 1991 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 8.4.1987 – 5 a RKn 13/86 – Neufeststellung der Rente unter Berücksichtigung der Ersatzzeit nach § 51 RKG für die Zeit der Internierung ab Vollendung des 14. Lebensjahres und die darüber hinaus jetzt noch streitigen Zeiten. In dem ihr von der Beklagten übersandten Fragebogen gab sie am 14.4.1992 an, nach der Entlassung aus der Internierung sei die Familie (Eltern und 7 Kinder) nicht an den letzten Wohnsitz vor der Internierung zurückgekehrt. Die große Familie habe sich gerade etwas eingelebt gehabt. So lange sie interniert gewesen sei, habe sie nicht zurückkehren können. Danach habe sie nicht zurückkehren wollen. In einem weiteren Exemplar des gleichen Fragebogens vom 10.5.1992 heißt es dagegen: Trotz Ende der Kommandanturaufsicht wurde es uns verboten, an die Wolga zurückzukehren. Die Frage, wollten sie zurückkehren, ist mit ja beantwortet. Die Beklagte erkannte darauf mit Bescheid vom 8.9.1992 lediglich die Zeit der Internierung bis 31.3.1956 als Ersatzzeit an. Die Anerkennung einer Ersatzzeit für die Zeit danach bis zur Aussiedlung lehnte sie dagegen ab, weil die Klägerin selbst angegeben habe, daß sie nicht in das ursprüngliche Siedlungsgebiet habe zurückkehren wollen.
Im Widerspruchsverfahren führte die Klägerin aus, ihre Erklärung, auf die sich die Beklagte berufe, sei mißverständlich. Sie habe damit nur ausdrucken wollen, daß nach dem Ende der Kommandanturaufsicht der Wunsch bestanden habe, direkt nach Deutschland ausreisen zu wollen, weil zu diesem Zeitpunkt das ursprüngliche Siedlungsgebiet an der Wolga zur Gänze untergegangen war. Ausreiseanträge ohne Anforderung durch Eltern oder Geschwister aus Deutschland seien offiziell nicht angenommen worden. Sie hätten aber die erste Möglichkeit für eine Ausreise genutzt, als die Schwester ihres zweiten Ehemannes die Zusammenführung beantragt habe. Sie hätten daraufhin sofort die Ausreise beantragt, die dann 1988 genehmigt worden sei.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 8.4.1993 zurück. Da die Klägerin im Gebiet Karaganda geboren und zu keiner Zeit in ein anderes Gebiet der UdSSR verbracht worden sei, liege keine Rückkehrverhinderung als Voraussetzung für die Anrechnung der streitigen Ersatzzeit vor.
Mit der Klage hat die Klägerin geltend gemacht, ihrer Familie sei nach der Entlassung aus der Kommandanturaufsicht und...