Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Einkommens- oder Vermögensberücksichtigung. Pflichtteilsanspruchs aus Erbschaft. Abgrenzung der Rücknahme von der Aufhebung eines Verwaltungsakts für die Vergangenheit. Verletzung der Anhörungspflicht. keine Nachholung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Zuwendung eines Pflichtteils zählt zum Vermögen, wenn der Erbfall vor der Beantragung von Leistungen eingetreten ist.

2. Ist die Erfüllung des Pflichtteilsanspruchs im Zeitraum nach Antragstellung erfolgt, stellt der Zufluss des Geldbetrags Einkommen dar.

3. Zur Abgrenzung der §§ 45 und 48 SGB 10.

 

Orientierungssatz

Zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Rücknahmebescheides wegen Verletzung der Anhörungspflicht gem § 24 SGB 10 und mangels Heilung des Verfahrensmangels nach § 41 SGB 10.

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 10.06.2009 - S 6 AS 1070/08 - sowie der Bescheid der Beklagten vom 11.08.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2008 aufgehoben.

2. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Höhe die Klägerin für die Zeit vom 01.09.2008 bis 31.12.2008 Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) hatte und insbesondere darüber, ob ein Pflichtteilsanspruch als Einkommen oder als Vermögen zu berücksichtigen ist.

Die 1975 geborene Klägerin lebte im streitgegenständlichen Zeitraum zusammen mit ihren drei Töchtern in einer Bedarfsgemeinschaft. Ihre Großmutter war am 01.10.2003 verstorben, wovon sie mit einem Schreiben des Amtsgerichts B vom 29.10.2007 Kenntnis erhalten hatte. In dem notariellen Testament ihrer Großmutter, der Witwe M B , geb. am … 1923, vom 14.05.2003 hatte die Erblasserin ihre Tochter D P , geb. B , ersatzweise deren Tochter J P , geb. am … 1984, zu ihrer alleinigen Erbin eingesetzt. Die beiden anderen Kinder der Großmutter, Frau E S , und der vorverstorbene Vater der Klägerin, Herr K K sind in der notariellen Urkunde nicht erwähnt.

Mit Bescheid vom 07.12.2007 und Änderungsbescheiden vom 19.12.2007 hatte der Beklagte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.01.2008 bis 30.06.2008 gewährt. Aufgrund des am 6. Juni 2008 gestellten Weiterbewilligungsantrags waren der Bedarfsgemeinschaft mit Bescheid vom 18.06.2008 weiterhin Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.07.2008 bis zum 31.12.2008 bewilligt worden. Einen Vermerk über die Aufgabe zur Post enthält der Bescheid nicht. Mit Bescheid vom 02.07.2008 erfolgte durch den Beklagten eine Abänderung bezüglich der Leistungshöhe für den genannten Zeitraum.

Im Juni 2008 erhielt der Beklagte Kenntnis davon, dass der Klägerin aus einer Erbschaft ein Betrag in Höhe von 7.282,83 € zugeflossen sein solle. Er forderte daraufhin bei der Klägerin einen entsprechenden Nachweis an. Diese legte zwei an sie adressierte Rechtsanwaltsschreiben vom 16.06.2008 vor. Eines dieser Schreiben enthält die Abrechnung von Rechtsanwaltsgebühren, woraus sich nach Abzug der erhaltenen Zahlungen i.H.v. 7.282,83 € ein Guthabensbetrag i.H.v. 6.538,61 € ergab. In dem zweiten Schreiben vom 16.06.2008 erhielt die Klägerin die Mitteilung, dass in der Anlage ein Verrechnungsscheck i.H.v. 6.538,61 € beigefügt sei. Die Klägerin hat den Scheck am 18.06.2008 erhalten; der Betrag wurde nach Einlösung auf ihrem Konto am 19.06.2008 gutgeschrieben.

Mit Bescheid vom 11.08.2008 änderte der Beklagte sodann die Bewilligungsleistungen für den Zeitraum vom 01.09.2008 bis zum 31.12.2008. Er bewertete die Auszahlung "des Erbes" i.H.v. 6.538,61 € als Zufluss von Einkommen, das auf 12 Monate zu verteilen sei, woraus sich für den genannten Zeitraum ein monatlich anrechenbarer Betrag i.H.v. 544,89 € ergebe. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.11.2008 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 14.11.2008 Klage beim Sozialgericht Koblenz (SG) erhoben und geltend gemacht, sie habe erstmals durch ein Schreiben des Amtsgerichts B vom 29.10.2007 vom Tod ihrer Großmutter am 01.10.2003 Kenntnis erhalten. Der Erbfall sei aber bereits mit dem Tod eingetreten und die Erbschaft damit schon zu einem Zeitpunkt zugeflossen, als sie vom Beklagten noch keine Leistungen erhalten habe. Nach der Erbauseinandersetzung habe ihr Rechtsanwalt mit Schreiben vom 16.06.2008 den ihr zustehenden Geldbetrag mitgeteilt. Bei dem Geld aus der Erbschaft handele es sich um Vermögen im Sinne von § 12 SGB II.

Das SG hat mit Urteil vom 10.06.2009 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Beklagte habe zu Recht mit Bescheid vom 11.08.2008 für die Zeit vom 01.09.2008 bis 31.12.2008 eine Änderung der der Klägerin zustehenden Leistungen gemäß § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) verfügt. Der aus der Erbschaft zugeflossene Betrag i.H.v. 6.538,61 € sei als Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II einzustufen und deshalb ...

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