Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Europarechtskonformität. Verfassungsmäßigkeit. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. keine Leistungsgewährung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12

 

Orientierungssatz

1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 aF verstößt weder gegen Europarecht noch gegen das GG.

2. Die von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossenen Unionsbürger haben auch bei einem über sechs Monate hinaus andauernden Aufenthalt im Inland keinen Sozialhilfeanspruch nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12 im Wege der Ermessensreduzierung auf Null, wenn keine Anhaltspunkte vorgetragen oder ersichtlich sind, die die Anwendung der Ausnahmevorschrift rechtfertigen würde (entgegen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 21.03.2019; Aktenzeichen B 14 AS 31/18 R)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beigeladenen wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 13. April 2017 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beigeladene wendet sich gegen ihre Verurteilung, dem Kläger Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) für die Zeit von Januar bis Dezember 2015 zu gewähren.

Der 1971 geborene Kläger ist l Staatsangehörige. Er hält sich seit Mai 2012 in der Bundesrepublik Deutschland auf - bis Januar 2017 ohne festen Wohnsitz. Seit dem 15. August 2014 hielt er sich gewöhnlich in M auf. Bis zum 29. März 2016 hat er in der Bundesrepublik keine Erwerbstätigkeit ausgeübt, allerdings hat er sich seinen Angaben zufolge kontinuierlich auf verschiedene Stellen beworben. Nachgewiesen sind Bewerbungen im April bis Juni 2015.

Seinen am 07. Januar 2015 gestellten Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 10. Februar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 2015 ab, weil sich der Kläger ausschließlich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalte und deshalb gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen sei.

Am 20. Mai 2015 hat der Kläger dagegen Klage beim Sozialgericht Mainz erhoben und außerdem  die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes  beantragt.  Mit rechtskräftigem Beschluss vom 23. Juli 2015 (S 5 AS 462/15 ER / L 6 AS 454/15 B ER) hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Der Leistungsausschluss nach dem SGB II sei auch aus europarechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, denn der Kläger habe zu keinem Zeitpunkt eine auch nur geringfügige Beschäftigung in der Bundesrepublik ausgeübt. Am 29. März 2016 hat der Kläger bei der Firma S GmbH in L eine Aushilfstätigkeit für zehn Wochenstunden zu einem Stundenlohn von 10,00 € aufgenommen (Arbeitsvertrag vom 29. März 2016). Der Beklagte hat ihm daraufhin gemäß § 40 Absatz 2 Nummer 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Verbindung mit § 328 Absatz 1 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) mit Bescheid vom 19. Mai 2016 vorläufig für die Zeit vom 01. April bis zum 30. September 2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bewilligt; der Kläger hatte seine Erreichbarkeit über die Wohnungslosenhilfe in M sichergestellt.

Mit Beschluss des Sozialgerichts vom 25. Januar 2016 ist die Beigeladene als der zuständige Leistungsträger nach dem SGB XII gemäß §§ 75 Abs. 2, 106 Abs. 3 Nr. 6 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Rechtsstreit beigeladen worden. Den bereits am 06. Januar 2016 gestellten Antrag des Klägers, ihm Leistungen nach dem SGB XII zu gewähren, hat sie mit bestandskräftigem Bescheid vom 21. Januar 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2016 abgelehnt. Der Kläger sei als grundsätzlich Erwerbsfähiger von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen.

In der mündlichen Verhandlung des Sozialgerichts am 13. April 2017 hat der Beklagte einen Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld II ab dem 29. März 2016, also dem Tag der Aufnahme seiner Tätigkeit bei der Firma S GmbH, “anerkannt„. Der Kläger hat dieses Teil-Anerkenntnis angenommen und ausdrücklich nur beantragt, die Beigeladene zu verurteilen, ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 07. Januar 2015 bis zum 28. März 2016 zu gewähren.

Mit Urteil vom selben Tag hat das Sozialgericht die Beigeladene verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 07. Januar 2015 bis zum 31. Dezember 2015 Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu gewähren und die Klage im Übrigen abgewiesen. Der Kläger habe lediglich in dem sich aus dem Tenor ergebenden Zeitraum Anspruch auf Leistungen gegen die Beigeladene nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Ihrer Verurteilung für die Zeit ab Januar 2016 stehe die bestandskräftige Entscheidung vom 21. Januar 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides  vom 30. Juni 2016 entgegen. Der Kläger erfülle die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 2...

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