Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Angemessenheitsprüfung. schlüssiges Konzept. Vergleichsraum im ländlich geprägten Bereich. mehrere Referenzmieten im Vergleichsraum. Zumutbarkeit eines Umzugs
Leitsatz (amtlich)
1. Es ist zulässig, auch ländlich geprägte Landkreise als Vergleichsraum zugrunde zu legen, sofern sachliche Gesichtspunkte dies erfordern und die Daseinsvorsorge der Gemeinden des Vergleichsraums durch ein öffentliches Verkehrsnetz gewährleistet ist, diese also gut angebunden sind.
2. Innerhalb eines Landkreises als Vergleichsraum können mehrere Referenzmieten gebildet werden, wenn die regionalen Verhältnisse die Bildung sog Wohnungsmarkttypen erfordern.
3. Den Leistungsempfängern ist ein Umzug innerhalb eines Landkreises grundsätzlich zumutbar. Ein Aufrechterhalten des sozialen Umfeldes bedeutet nicht, dass keinerlei Veränderungen der Wohnraumsituation stattfinden dürften. Vielmehr sind vom Hilfeempfänger auch Anfahrtswege mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinzunehmen, wie sie etwa erwerbstätigen Pendlern (vgl insoweit § 140 Abs Sozialgesetzbuch Drittes Buch - SGB III) als selbstverständlich zugemutet werden.
Tenor
1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 19.02.2014 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Kläger begehren im Rahmen der Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung (KdU) für die Monate März bis August 2011.
Die 1965 geborene Klägerin bewohnt seit Dezember 2008 mit ihrem 1999 geborenen Sohn eine 69 qm große Wohnung in der G Straße in W. Die Miete betrug im streitigen Zeitraum 340,00 €, die monatliche Vorauszahlung für Betriebs- und Heizkosten belief sich auf 140,00 € (Nebenkosten 80,00 €, Heizkosten 60,00 €). Bereits nach erstmaliger Antragstellung der Kläger am 29. Juni 2009 wies der Beklagte sie mit Schreiben vom 30. Juni 2009 darauf hin, dass die KdU mit einer monatlichen Kaltmiete von 340,00 € nicht angemessen sei. Für eine (angemessene) Wohnungsgröße von 60 qm bilde ein qm-Preis von 4,60 € die Obergrenze, so dass sich eine Kaltmiete von 276,00 € errechne. Deswegen würden ab dem 1. Januar 2010 nur noch die angemessenen Kosten übernommen werden. Trotz des Hinweises auf die beabsichtigte Senkung der KdU erkannte der Beklagte von August 2009 bis Februar 2011 die monatlichen KdU in voller Höhe an. Erst ab März 2011 senkte er die Kaltmiete auf 276,00 € herab und bewilligte der Bedarfsgemeinschaft mit Bescheid vom 2. Februar 2011 Leistungen für die Zeit vom 1. März 2011 bis zum 31. August 2011 in einer Gesamthöhe von 885,00 €, wobei auf die Klägerin und ihren Sohn jeweils KdU in Höhe von monatlich 208,00 € entfiel [(276,00 € + 140,00 €) : 2]. Der gegen die Höhe der KdU gerichtete Widerspruch der Kläger blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19. April 2011). Der Beklagte berief sich auf § 22 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) und wies darauf hin, dass der angemessene qm-Preis nur 4,43 € betrage, insgesamt also 265,80 € angemessen seien.
Insoweit stützte sich der Beklagte auf das Ergebnis eines von der Fa. A, Beratungsgesellschaft für Wohnen, Immobilien und Tourismus mbH, H in seinem Auftrag im März 2011 erstellten und im Dezember 2013 überarbeiteten Konzepts “Mietwerterhebungen zur Ermittlung der KdU-Richtwerte im D. Kreis„. Die Angemessenheitsgrenzen wurden für sog. Wohnungsmarkttypen ermittelt, weil dies nach Auffassung von Analyse & Konzepte notwendig ist, um den regionalen Besonderheiten des D. Kreises bezüglich der Mietpreisbildung gerecht zu werden. Als Vergleichsraum wurde der gesamte D. Kreis zugrunde gelegt. Nach dem Ergebnis der sog. Clusteranalyse umfasste der Wohnungsmarkttyp I die Verbandsgemeinde E, der Wohnungsmarkttyp II die Verbandsgemeinden A und R und der Wohnungsmarkttyp III die Verbandsgemeinden G, K und W. Laut Zensus 2011 waren im D. Kreis insgesamt rund 11 400 Wohnungen zu Wohnzwecken vermietet, hierunter befanden sich auch (von der Erhebung durch entsprechende Filterfragen ausgeschlossene) Werkswohnungen und Wohnungen, die zu Freundschaftsmieten und/oder Sonderkonditionen vermietet wurden. Die Daten wurden von Juli bis November 2010 unabhängig vom Erhebungsdatum jeweils zum Stichtag 1. August 2010 erhoben. Es wurden im gesamten Vergleichsraum Mieten des einfachen, mittleren und gehobenen Segments erhoben und hierfür kleine und große Vermieter angeschrieben sowie die gemäß der vorliegenden Mietverträge tatsächlich zu zahlenden Mieten aus dem SGB II- Datensatz des Beklagten ausgewertet. Auch die kalten Betriebskostenvorauszahlungen wurden erhoben und mit den Betriebskostenvorauszahlungen der Leistungsempfänger abgeglichen. Für die weiteren Berechnungen wurde der Mittelwert differenziert nach Wohnungsgröße in Ansatz gebracht und betrug bei einer Wohnungsgröße ≫50 ≤ 60 qm 1,25 € pro qm.
Nach Extremwertkappung verblieben 2 770 Bestandsdaten...