Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes. Verwirkung des Anspruchs auf Kostenübernahme
Leitsatz (amtlich)
Der Kostenübernahmeanspruch für ein Gutachten nach § 109 Abs 1 S 2 SGG kann verwirkt werden. Die Verwirkung des Anspruchs setzt aber wegen des nicht fristgebundenen Antragsrechts ein gravierendes Zeitmoment und ein entsprechendes Umstandsmoment voraus.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 17. Januar 2018 wird aufgehoben.
Die Kosten des gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz erstatteten Gutachtens von Dr. J. vom 12. Januar 2009 werden auf die Landeskasse übernommen.
Die Staatskasse hat dem Kläger die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Der Kläger und Beschwerdeführer (nachfolgend Kläger) begehrt die Erstattung von Kosten für ein nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholtes Gutachten.
Nach einem gerichtlichen Vergleich vom 22. Oktober 2004 wurde beim Kläger ein Grad der Behinderung (GdB) von 20 festgestellt. Einen Neufeststellungsantrag des Klägers lehnte das Versorgungsamt ab. Dagegen hat der Kläger am 26. Juni 2007 Klage beim Sozialgericht (SG) Halle erhoben und einen höheren GdB begehrt. In einem vom SG beigezogenen rentenversicherungsrechtlichen Gutachten vom 7. Juli 2007 hatte die Fachärztin für Orthopädie Dipl.-Med. H. den Verdacht auf einen psychosomatischen Symptomenkomplex geäußert. In einem vom SG eingeholten Befundbericht vom 28. Januar 2008 hatte die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. P. u.a. eine Angststörung diagnostiziert. Am 20. Juni 2008 hat der Kläger einen Antrag nach § 109 SGG und eine Begutachtung durch den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. J. beantragt. In einem 39-seitigen Gutachten vom 12. Januar 2009 hat Dr. J. in Abgrenzung möglicher Angststörungen eine leichte ängstlich-depressive Störung diagnostiziert, jedoch keine Erhöhung des Gesamt-GdB befürwortet. Der Kläger hat für das Gutachten von Dr. J. Vorschusszahlungen in Gesamthöhe von 1.232,26 EUR an die Landeskasse geleistet.
Mit Urteil vom 27. Mai 2009 hat das SG die Klage abgewiesen und in den Urteilsgründen u.a. auf die schlüssigen Darlegungen des Sachverständigen Dr. J. Bezug genommen. Dagegen hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt. Das Berufungsverfahren endete mit einem gerichtlichen Vergleich im April 2012.
Nach einer Aufforderung durch den Rechtsschutzversicherer des Klägers vom 22. November 2017 hat dieser am 7. Dezember 2017 beantragt, die Kosten für das Sachverständigengutachten von Dr. J. auf die Landeskasse zu übernehmen.
Mit Beschluss vom 17. Januar 2018 hat das SG den Antrag wegen Verwirkung abgelehnt. Seit dem gerichtlichen Vergleich im Jahr 2012 habe es der Kläger versäumt, einen Kostenübernahmeantrag zu stellen. In Anlehnung an die Verjährungsvorschrift von § 45 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (SGB I) sei auch für den Kostenübernahmeantrag nach § 109 SGG von einer vierjährigen Verjährung auszugehen. Diese Frist habe der Kläger bei weitem überschritten, was eine Verwirkung des Erstattungsanspruchs begründe. Zu bedenken seien auch die haushalterischen Auswirkungen. Der Aufwand, für noch nicht gestellte Kostenübernahmeanträge jährlich Mittel einzuplanen, sei nicht zu rechtfertigen.
Gegen den ihm am 23. Januar 2018 zugestellten Beschluss hat der Kläger am 22. Februar 2018 Beschwerde beim SG eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Die Verwirkung setze ein Zeit- und ein Umstandsmoment voraus. Ein Umstandsmoment liege nicht vor und das Haushaltsargument sei irrelevant.
Der Beschwerdegegner vertritt die Auffassung, dass eine Verwirkung eingetreten sei. Zwar sei das Antragsrecht auf Erstattung der Kosten nach § 109 SGG unbefristet und durch bloßen Zeitablauf nicht einfach verwirkbar. Es könne jedoch zu Lasten der Landeskasse keine zeitlich völlig uneingeschränkte Erstattungspflicht geben.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Die Kosten für das gemäß § 109 SGG eingeholte Gutachten von Dr. J. sind auf die Staatskasse zu übernehmen.
1. Die Voraussetzungen einer Kostenübernahme der Sachverständigenkosten auf die Landeskasse gemäß § 109 SGG sind gegeben, da das Gutachten von Dr. J. zur Sachverhaltsaufklärung beigetragen hat.
Gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG kann die beantragte Anhörung eines Arztes davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt. Über die endgültige Kostentragungspflicht nach § 109 SGG entscheidet das Gericht nach Ermessen durch Beschluss. Das Gericht berücksichtigt bei seiner Ermessensentscheidung über die Kostenübernahme auf die Staatskasse, ob das Gutachten die Sachaufklärung wesentlich gefördert hat (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, 2017, § 109 Rdn. 16a). Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Sachverständige wesentliche, bisher noch nicht bekannte rechtserhebliche Tatsachen feststellt und sich zu deren...