Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Unionsbürger. Anforderungen an die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Erwerbstätigkeit. Inanspruchnahme aufstockender Sozialleistungen. Bedarfsgemeinschaft. vollständige Deckung des eigenen Bedarfs. einstweiliges Rechtsschutzverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Der Missbrauchstatbestand im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist grundsätzlich eng auszulegen. Die Inanspruchnahme von Bürgergeld bzw Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die aufstockend zu einer tatsächlichen und echten Arbeitnehmertätigkeit oder zur (weiteren) Integration in den Arbeitsmarkt gewährt werden, begründet nicht per se einen Missbrauch des Freizügigkeitsrechts.
2. Für die Annahme der rechtsmissbräuchlichen Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit bleibt daher jedenfalls dann kein Raum, wenn der Betroffene durch seine Tätigkeit seinen eigenen Bedarf vollständig decken kann (vgl LSG Darmstadt vom 11.12.2019 - L 6 AS 528/19 B ER = Asylmagazin 2020, 139).
Orientierungssatz
Die an den Arbeitnehmerstatus eines Familienmitglieds anknüpfende Freizügigkeit der anderen Familienmitglieder (§ 3 Abs 1 FreizügG/EU 2004) ist allein von dem Arbeitnehmerstatus des beschäftigten Familienmitglieds abgeleitet, ohne dass insoweit Anhaltspunkte dafür vorhanden wären, dass ihre Inanspruchnahme wegen des Bezugs von Sozialleistungen im Wohnsitzstaat missbräuchlich sein könnte.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 16. März 2023 wird abgeändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 10. bis zum 31. Januar 2023 in Höhe von 236,65 € zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Den Antragstellern wird für das erstinstanzliche Verfahren und das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt L. bewilligt.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern ein Drittel der notwendigen außergerichtlichen Kosten im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragsteller und Beschwerdeführer (im Weiteren: Antragsteller) machen im Wege des einstweiligen Anordnungsverfahrens die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) geltend. Zugleich wenden sie sich gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das einstweilige Rechtsschutzverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Dessau-Roßlau.
Die Antragsteller sind bulgarische Staatsangehörige. Der Antragsteller zu 1. ist im März 1994 geboren und hat nach dem Schulabschuss den Beruf des Kochs erlernt. Gemeinsam mit seiner im Juli 2000 geborenen Ehefrau, der Antragstellerin zu 2., ist er im Jahr 2017 erstmals nach Deutschland eingereist. Ihre gemeinsamen Kinder, die Antragsteller zu 3. bis 6., sind in den Jahren 2018, 2019, 2020 und 2022 geboren. Sie bezogen von März 2018 bis Februar 2020 (ergänzend) Leistungen vom Antrags- und Beschwerdegegner (im Weiteren: Antragsgegner). In der Folgezeit hielten sie sich in B. und Bulgarien auf.
Spätestens im Februar 2022 begab sich die Familie anlässlich der bevorstehenden Geburt des Antragstellers zu 6. nach Bulgarien und reiste dann am 14. Juni 2022 erneut nach Deutschland ein.
Sie lebten zunächst in einer Wohnung in der G-Straße in J., die ihnen K. vermietete. In der Zeit vom 15. August bis zum 31. Oktober 2022 lebten sie in einer Wohnung1 A-Straße in A.. Ausweislich des Mietvertrags vom 27. Februar 2023 leben sie seit dem 1. November 2022 in einer 60 m² großen Wohnung2 A-Straße in A., für die monatlich eine Kaltmiete von 270 €, eine Betriebskostenvorauszahlung von 25 € sowie eine Vorauszahlung für Heizkosten und Warmwassererzeugung von 55 € anfallen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Mietvertrag (Blatt 262 ff. der Gerichtsakte) Bezug genommen.
Die Antragstellerin zu 2. bezog ab dem 24. Juni 2022 Elterngeld in Höhe von monatlich 300 € (Bescheid des Landkreises Wittenberg vom 12. Dezember 2022). Die Antragsteller zu 3. bis 6. beziehen seit August 2022 erneut Kindergeld (Bescheid der Familienkasse vom 20. Oktober 2022).
Am 1. August 2022 schloss der Antragsteller zu 1. einen Arbeitsvertrag mit S., Inhaber des B. Imbiss, über eine geringfügige Beschäftigung als Auslieferungsfahrer. Arbeitsvertraglich waren eine monatliche Arbeitszeit von 41 Stunden und ein Bruttostundenlohn in Höhe von 10,45 € vorgesehen. Der monatliche Bruttoverdienst sollte dementsprechend bei 428 €, der Nettoverdienst bei 413,03 € liegen.
Die Antragsteller beantragten sodann am 11. August 2022 beim Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Antragstell...