Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Unionsbürger. Anforderungen an die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Erwerbstätigkeit. Inanspruchnahme aufstockender Sozialleistungen. Bedarfsgemeinschaft. einstweiliges Rechtsschutzverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Ein missbräuchliches Berufen auf die unionsrechtliche Rechtsstellung kann im Einzelfall vorliegen, wenn eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung (Freizügigkeit, Integration in den Arbeitsmarkt) nicht erreicht wird und als subjektives Element die Absicht festgestellt wird, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen (dh die Arbeitnehmerstellung und das damit verbundene Aufenthaltsrecht) künstlich bzw willkürlich geschaffen werden sollen (vglBSG vom 27.1.2021 - B 14 AS 25/20 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 59 RdNr 28).
2. Der Missbrauchstatbestand im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist - als Ausnahme im Einzelfall - grundsätzlich eng auszulegen. Allein die Inanspruchnahme von Bürgergeld bzw Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die aufstockend zu einer tatsächlichen und echten Arbeitnehmertätigkeit oder zur (weiteren) Integration in den Arbeitsmarkt gewährt werden, begründet keinen Missbrauch des Freizügigkeitsrechts.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 25. Juni 2024 wird aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig Bürgergeld-Leistungen für Juni 2024 in Höhe von 1.611,90 € zu gewähren.
Den Antragstellern wird für das erstinstanzliche Verfahren und das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt D. S. bewilligt.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern die notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragsteller und Beschwerdeführer (im Weiteren: Antragsteller) machen im Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Monat Juni 2024 geltend. Zugleich wenden sie sich gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das einstweilige Rechtsschutzverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Dessau-Roßlau.
Der im Januar 1982 geborene Antragsteller zu 1 und die im August 1993 geborene Antragstellerin zu 2 sind bulgarische Staatsangehörige, seit dem 22. August 2022 miteinander verheiratet und haben zwei Kinder, den im Juli 2014 geborenen Antragsteller zu 3 und die im Oktober 2022 geborene Antragstellerin zu 4. Nach ihren Angaben sind sie im August 2021 nach Deutschland eingereist und wohnten zunächst in E. Sie bezogen dort keine SGB II-Leistungen.
Der Antragsteller zu 1 verfügt nach eigenen Angaben weder über einen Schul- noch über einen Berufsabschuss. Nach seiner Einreise war er in der Zeit vom 13. September bis zum 25. November 2021 bei der Firma A. P. GmbH beschäftigt. Im September 2021 erzielte er hieraus Einkommen (netto) in Höhe von 758,35 €, im Oktober 2021 in Höhe von 1.243,30 € und im November 2021 in Höhe von 424,04 €. Vom 22. November 2021 bis zum 14. Januar 2022 war der Antragsteller zu 1 bei der 3 K P. Dienste als Produktionshelfer in der Weihnachtszeit angestellt. Er erzielte im November 2021 ein Nettoeinkommen von 370,46 €, im Dezember 2021 von 1.126,96 € und im Januar 2022 von 271,70 €. In der Zeit vom 1. Februar bis zum 11. April 2022 war der Antragsteller zu 1 bei der Firma S. E.-S. GmbH für 20 Wochenstunden beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis sei durch den Antragsteller zu 1 gekündigt worden, da er nicht eingesetzt worden sei und somit kaum Einkommen habe erzielen können. Im Februar 2022 erhielt er einen Nettolohn von 192,59 € und im März 2022 von 180,83 €.
Im Zeitraum vom 17. März 2022 bis zum 29. Oktober 2022 war er wieder bei der Firma A. P. GmbH als Produktionsmitarbeiter mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden beschäftigt. Er erzielte monatliche Nettoeinkommen von 574,40 € im März 2022, von 1.241,67 € im April 2022, von 1.229,88 € im Mai 2022, von 1.664,57 € im Juni 2022, von 1.155,61 € im August 2022, von 1.495,01 € im September 2022 und von 1.674,14 € im Oktober 2022.
Die Antragstellerin zu 2 besuchte in Bulgarien die allgemeinbildende Schule bis zur 8. Klasse. Sie verfügt ebenfalls nicht über einen Berufsabschluss. Nach ihrer Einreise war sie in der Zeit vom 16. bis zum 20. November 2021 bei der Firma O. P. Personalmanagement GmbH beschäftigt und erzielte Einkommen in Höhe von 21,94 €. Vom 20. Dezember 2021 bis zum 11. April 2022 war sie bei der Firma S. E.-S. GmbH mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden beschäftigt. Das Arbei...