Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe innerhalb der Klagefrist vor Klageerhebung. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Ablauf der Klagefrist

 

Orientierungssatz

Beantragt ein Rechtssuchender innerhalb der Klagefrist unter Vorlage eines vollständigen Antrages und Beifügung der erforderlichen Unterlagen die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe, ohne zugleich Klage in der Hauptsache zu erheben, so kann bei Bewilligung von Prozesskostenhilfe und nachfolgender Klagerhebung nach Ablauf der Klagefrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sein.

 

Tenor

Der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 20. Juli 2010 wird aufgehoben.

Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in die Frist zur Erhebung der Klage gewährt.

 

Gründe

I.

Die Klägerin wendet sich gegen die Ablehnung einer Wiedereinsetzung in die von ihr versäumte Klagefrist.

Die Klägerin reichte am 18. Dezember 2009 durch einen von ihr bevollmächtigten Rechtsanwalt beim Sozialgericht Halle (SG) einen Antrag auf Prozesskostenhilfe nebst einem Entwurf einer Klage gegen einen die Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt vom 28. Januar 2008 ein.

Nachdem das SG Prozesskostenhilfe mit einem der Klägerin am 25. März 2010 zugestellten Beschluss bewilligte, beantragte die Klägerin am 26. März 2010 die Wiedereinsetzung. Am 29. März 2010 hat die Klägerin die Klage gegen den Bescheid vom 28. Januar 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2009 erhoben.

Das SG lehnte die Wiedereinsetzung mit Beschluss vom 20. Juli 2010 ab: Die Klägerin habe die Klagefrist nicht unverschuldet versäumt. Die Erhebung der Klage sei auch einem Mittellosen möglich, da keine Gerichtskostenvorschüsse anfielen und das Verfahren für Leistungsempfänger kostenfrei sei. Auch die Mitwirkung eines Rechtsanwalts sei zur bloßen Klageerhebung nicht erforderlich. Es sei daher als grob fahrlässig anzusehen, wenn die Klägerin von der Möglichkeit, selbst die Klage zu erheben, keinen Gebrauch macht. Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten sei der Klägerin zuzurechnen.

Gegen diesen ihr am 23. Juli 2010 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 26. Juli 2010 Beschwerde erhoben.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen.

II.

Die form- und fristgerecht im Sinne des § 173 Satz 1 des Sozialgerichtsgerichtsgesetzes (SGG) erhobene Beschwerde ist zulässig. Soweit das Gericht über ein Wiedereinsetzungsgesuch nicht erst im Urteil, sondern zulässig vorab im Wege des Beschlusses entscheidet, ist diese Entscheidung der Beschwerde zugänglich.

Die Beschwerde ist begründet.

Der Klägerin ist Wiedereinsetzung gemäß § 67 Abs. 1 SGG wegen Versäumung der Klagefrist zu gewähren. Sie hat eine gesetzliche Verfahrensfrist in Gestalt der Klagefrist ohne Verschulden versäumt.

Die Klagefrist gemäß § 87 Abs. 1 SGG von einem Monat nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2009 am 9. Dezember 2009 war bei formeller Klageerhebung am 29. März 2010 bereits verstrichen. Der Eingang des Klageentwurfs am 18. Dezember 2009 war nicht als Erhebung der Klage zu verstehen, da zunächst nur Prozesskostenhilfe beantragt war.

Die Klägerin trifft - auch kein zugerechnetes - Verschulden an der Versäumung der Klagefrist. Ein Verschulden im Sinne des § 67 Abs. 1 SGG liegt vor, wenn der Beteiligte nicht die ihm nach seinen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt beachtet hat, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles zur gewissenhaften Prozessführung nach allgemeiner Verkehrsanschauung vernünftigerweise erforderlich ist (vgl. BSG; Urteil vom 18. März 1997, 9b U 8/96, BSGE 61, 213). Dabei ist das Verschulden eines Prozessbevollmächtigten gemäß § 73 Abs. 4 SGG i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen. Wird ein Beteiligter anwaltlich vertreten, muss er sich die Sorgfaltsmaßstäbe zurechnen lassen, die den Möglichkeiten eines Rechtskundigen entsprechen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt vom 12. Januar 2009, L 5 B 209/08 AS). Nach diesen Grundsätzen ist die Versäumung der Klagefrist nicht als verschuldet anzusehen.

Grundsätzlich ist es auch in den in der Sozialgerichtsbarkeit kostenfreien Verfahren möglich, Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn vor Ablauf der gesetzlichen Frist ein vollständiger Antrag auf Prozesskostenhilfe mit den erforderlichen Unterlagen vorgelegt wird und erwartet werden darf, dass das Gericht dem Prozesskostenhilfeantrag stattgibt (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 9. Aufl., § 76 Rn. 7b; LSG Bayern vom 20. November 2002, L 18 U 181/02 - Juris; LSG Sachsen vom 29. April 1997, L 1 B 45/96 - Juris). Die Klägerin hat einen bewilligungsreifen Antrag auf Prozesskostenhilfe innerhalb der Klagefrist gestellt. Es war auch nicht offensichtlich ausgeschlossen, dass Prozesskostenhilfe bewilligt werden würde.

Eine Wiedereinsetzung ist nicht wegen des Verschuldens der Klägerin, die Klagefrist nicht eingehalten zu haben, ausgeschlossen. Die von SG zitierte Rechtsprechung des LSG Berlin-Brandenburg (vom 29. Oktober 2009, L 5 AL 7/09 - Ju...

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