Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Einkommensberücksichtigung. Unzulässigkeit der Anrechnung fiktiven Einkommens nach unterlassenem Lohnsteuerklassenwechsel. keine bereiten Mittel. Ersatzanspruch wegen sozialwidrigem Verhalten
Leitsatz (amtlich)
1. Nur eine tatsächlich zugeflossene Einnahme ist als "bereites Mittel" geeignet, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken; die Anrechnung von fiktiven Einkommens zur Bedarfsminderung ist nach dem System des SGB 2 ausgeschlossen.
2. Ein Grundsicherungsträger ist nicht berechtigt, wegen eines unterlassenen Wechsels der Lohnsteuerklasse Einkommen gemäß § 11 und § 11a SGB 2 fiktiv zu berücksichtigen.
3. Ein unterlassener Wechsel der Lohnsteuerklasse kann Ersatzansprüche nach § 34 SGB 2 begründen (Vergleiche LSG Sachsen-Anhalt vom 20.8.2014 - L 4 AS 272/14 B ER = juris RdNr 34).
Tenor
Die Beschwerden werden zurückgewiesen.
Der Beschwerdeführer hat der Beschwerdegegnerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
I.
Der Beklagte und Beschwerdeführer (im Folgenden: Beschwerdeführer) begehrt die Zulassung der Berufung gegen vier Urteile des Sozialgerichts (SG) Halle und die Durchführung der Berufungsverfahren.
Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Beschwerdegegnerin) wendet sich mit ihren Klagen gegen die Berücksichtigung von fiktivem Einkommen aufgrund eines unterlassenen Wechsels der Einkommensteuerklasse durch ihren Ehemann für Oktober und November 2013 (L 4 AS 604/18 NZB), für Dezember 2013 (L 4 AS 603/18 NZB), für April und Mai 2014 (L 4 AS 602/18 NZB) und Dezember 2014 bis Mai 2015 (L 4 AS 605/18 NZB).
Die Beschwerdegegnerin und ihr Ehemann bezogen laufend ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Dabei berücksichtigte der Beschwerdeführer das vom Ehemann der Beschwerdegegnerin erzielte Erwerbseinkommen. Mit Schreiben vom 15. Mai 2013 forderte der Beschwerdeführer den Ehemann der Beschwerdegegnerin auf, von seiner bisherigen Lohnsteuerklasse IV in die Lohnsteuerklasse III zu wechseln. Dieser Aufforderung kam er nicht nach. In der Folge bewilligte der Beschwerdeführer der Beschwerdegegnerin vorläufig Grundsicherungsleistungen. Er begründete die Vorläufigkeit damit, dass das Einkommen des Ehemannes noch nicht abschließend bestimmt werden könne.
Mit Bescheiden vom 7. April 2014 setzte der Beschwerdeführer die Leistungsansprüche der Beschwerdegegnerin und ihres Ehemannes für Oktober bis Dezember 2013 endgültig fest und berücksichtigte bei der Ermittlung der Leistungsansprüche neben dem tatsächlich erzielten Erwerbseinkommen weitere 187,93 EUR aus der im September 2013 zugeflossenen Einkommensteuererstattung von 1.127,61 EUR. Darüber hinaus minderte er die Leistungsansprüche der Beschwerdegegnerin und ihres Ehemannes um insgesamt 94,06 EUR (Oktober 2013), 133,69 EUR (November 2013) und 83,98 EUR (Dezember 2013). Dies entspricht dem Betrag, welchen der Ehemann der Beschwerdegegnerin bei einem Lohnsteuerklassewechsel als zusätzliches Nettoentgelt erhalten hätte.
Mit weiterem Bescheid vom 7. April 2014 bewilligte der Beklagte für die Monate April und Mai 2014 zunächst vorläufig Grundsicherungsleistungen.
Die Beschwerdegegnerin erhob gegen diese Verwaltungsakte jeweils am 8. Mai 2014 Widerspruch, die mit Widerspruchsbescheiden vom 3. bzw. 4. November 2014 zurückgewiesen wurden.
Mit Bescheid vom 24. November 2014 entschied der Beklagte endgültig über die Leistungsansprüche für April und Mai 2014. Unter dem 1. Juli 2015 hat er schließlich einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid erlassen, welchen die Beschwerdegegnerin mit Widerspruch vom 28. Juli 2015 angegriffen und über den der Beschwerdeführer nach Erteilung eines Änderungsbescheides vom 9. Februar 2016 mit Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 2016 entschieden hat. Konkret hat der Beschwerdeführer jeweils 80,41 EUR für April und Mai 2014 als fiktives Einkommen anspruchsmindernd berücksichtigt.
Die Beschwerdegegnerin hat am 5. Dezember 2014 bezüglich der endgültigen Festsetzungen für die Monate Oktober bis Dezember 2013 und die vorläufige Bewilligung für April und Mai 2014 Klagen beim SG erhoben und im Hinblick auf die endgültigen Festsetzungen ausgeführt: Ein Lohnsteuerklassewechsel sei nicht erfolgt, die Anrechnung fiktiven Einkommens sei rechtswidrig. Sie hat die übrige Einkommensanrechnung ebenso wie den vom Beschwerdeführer zugrunde gelegten Bedarf der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft einschließlich der Kosten der Unterkunft und Heizung nicht beanstandet. Schließlich habe sie die Berechnung der vorläufig bewilligten Leistungen für April und Mai 2014 nicht nachvollziehen können.
Mit weiterem Bescheid vom 1. Juli 2015 hat der Beklagte die Leistungsansprüche der Klägerin und ihres Ehemannes für die Zeit vom 1. Dezember 2014 bis zum 31. Mai 2015 endgültig festgesetzt und dabei ebenfalls fiktiv erzieltes Erwerbseinkommen wie folg...