Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsberechtigter. Erwerbsfähigkeit. rückwirkende Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Unterkunft und Heizung. unangemessene Unterkunfts- und Heizkosten. Unmöglichkeit bzw Unzumutbarkeit einer Kostensenkung. sozialgerichtliches Verfahren. Verurteilung des Sozialhilfeträgers nach Beiladung
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Anspruch auf Bewilligung der unangemessen hohen Kosten der Unterkunft und Heizung kann im Einzelfall vorliegen, wenn eine schwere, länger andauernde psychiatrische Erkrankung einen Umzug außerhalb der konkreten örtlichen Lebensverhältnisse verbietet und dort angemessener Wohnraum nicht anmietbar ist.
2 a. Im Fall der rückwirkenden Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht für diesen Zeitraum kein Anspruch mehr auf weitere Leistungen nach dem SGB II. Vielmehr richtet sich der weitere Leistungsanspruch nach dem SGB XII.
b. Der Träger der Grundsicherung kann nach Beiladung im laufenden Klageverfahren zur Zahlung weiterer, als unangemessen abgelehnter Kosten der Unterkunft und Heizung verurteilt werden.
Tenor
Auf die Berufung des Beigeladenen zu 1. wird das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 16. Juni 2023 aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist, für September bis Dezember 2016 mehr als 52,14 €/Monat zu zahlen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beigeladene zu 1. hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist noch die Verpflichtung des Beigeladenen zu 1. zur Übernahme weiterer Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) für die Zeit von 1. September 2016 bis 31. August 2017.
Die 1966 geborene Klägerin bewohnt seit 2002 eine 59 m² große 3-Raum-Mietwohnung. Vermieterin war zunächst die S. W.. Die Verwaltung der Wohnung ist zum 1. Januar 2021 durch die Gesellschaft für Bauen und Wohnen S. (gbs) übernommen worden. Bis Februar 2013 lebte die Klägerin dort gemeinsam mit ihrem 1992 geborenen Sohn.
Die Bruttokaltmiete betrug in den Jahren 2016 und 2017 durchgehend 344,93 €/Monat (Grundmiete 293,86 €, Betriebskostenabschlag 51,07 €). Heizkostenabschläge waren i.H.v. 55 €/Monat zu zahlen. Unter dem 9. März 2017 wies die Vermieterin für die Betriebskostenabrechnung 2016 ein Guthaben i.H.v. 119,94 € aus. Unter dem 30. Juni 2017 teilte der Gasversorger für den Abrechnungszeitraum ein Guthaben i.H.v. 49,23 € mit.
Die Klägerin bezog vom Beklagten mindestens seit 2010 laufende Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Bereits im Bescheid vom 31. August 2011 war sie auf die Unangemessenheit der Miete hingewiesen worden. Angemessen seien für 2 Personen 260,93 €/Monat Grundmiete; ab März 2012 würden die Kosten auf das angemessene Maß abgesenkt. Die Kostenabsenkung erfolgte aber erst ab März 2013.
Nach den beigezogenen Verwaltungsvorgängen der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland (DRV [Vers.-Nr. 08 261266 P 502]) befand sich die Klägerin wegen einer schweren rezidivierenden depressiven Episode vom 18. bis 27. Januar 2012 in tagesklinischer, anschließend in stationärer und vom 18. April bis 6. Juni 2012 wieder in tagesklinischer Behandlung. Vom 11. bis 19. März 2014 erfolgte abermals eine stationäre Behandlung wegen schwerer Depression. Eine psychosomatische Rehabilitationskur wurde vom 24. Juli bis 28. August 2014 durchgeführt, u.a. mit der Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, remittiert. Nach dem Gutachten des Dr. P. nach Aktenlage für die Agentur für Arbeit Stendal vom 23. Oktober 2014 lag eine mehr als 6-monatige Minderung der Leistungsfähigkeit für eine 15 Stunden wöchentliche Beschäftigung vor. Vom 29. Oktober 2014 bis 6. Januar 2015 befand sich die Klägerin wieder in stationärer Behandlung wegen gegenwärtig schwerer depressiver Episode. Zwischen Februar 2015 und April 2017 erfolgten dann sieben kürzere stationäre Aufenthalte zur Durchführung von Erhaltungs-EKT.
Ein Antrag der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung vom 11. Februar 2015 war von der DRV zunächst mit Bescheid vom 15. April 2015 abgelehnt worden. In dem folgenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Magdeburg ( S 5 R 1347/15 ) hatte der Chefarzt des Fachklinikums U. W. das Gutachten vom 21. Juni 2018 erstattet. Dieser hatte eine bipolare affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode diagnostiziert. Es handele sich um eine schwere psychische Störung mit erheblichen Funktionseinschränkungen. Die Klägerin sei seit dem 18. Januar 2012 nicht in der Lage, mindestens 3 Stunden täglich Arbeiten mit einfachen geistigen Anforderungen auszuüben. Daraufhin ist von der DRV ab dem 1. November 2014 im Wege eines Anerkenntnisses die Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer bewilligt worden (Bescheid vom 17. April 2019).
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