Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Klage auf höhere Leistungen. rückwirkende Feststellung der vollen Erwerbsminderung. Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers. Beiladung. Verurteilung nach Beiladung. Zurechnung der Antragstellung beim Jobcenter und der Kenntnis des Jobcenters von der Hilfebedürftigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Der Beiladung des Landkreises als Sozialhilfeträger steht nicht entgegen, dass dieser als zugelassener kommunaler Träger zugleich Rechtsträger des beklagten Jobcenters ist.
2. Steht aufgrund einer rückwirkenden Feststellung der vollen Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger fest, dass der Sozialhilfeträger für die Grundsicherungsleistungen vollumfänglich zuständig gewesen wäre, so ist dieser der zuständige Verpflichtete eines höheren als des bereits gewährten Anspruchs.
3. Der Sozialhilfeträger muss sich insoweit die Antragstellung beim Jobcenter und dessen Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit zurechnen lassen (§ 16 Abs 2 SGB I).
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 19. Mai 2017 wird abgeändert. Der Beigeladene wird verurteilt, den Klägerinnen Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII für den Zeitraum von August bis November 2011 i.H.v. insgesamt 399,42 € zu zahlen.
Der Beigeladene erstattet die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten stehen höhere Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) oder dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für den Zeitraum von August bis November 2011 in Streit.
Die 1985 und 2010 geborenen Klägerinnen und Berufungsklägerinnen (Mutter und Tochter, im weiteren Klägerinnen) bewohnten eine 59,18 m² große Wohnung in A., J.-G.. Die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) betrugen zuletzt 366,91 €/Monat (Miete: 272,23 €/Monat, Betriebskosten: 47,34 €/Monat und Heizkosten: 47,34 €/Monat). Der Beklagte und Berufungsbeklagte (im weiteren Beklagter) hatte die Klägerinnen im Bescheid vom 30. September 2010 aufgefordert, die Kosten der Unterkunft (KdU) bis Ende März 2011 zu reduzieren, da die Bruttokaltmiete unangemessen hoch sei. Angemessen sei ein Betrag i.H.v. 306 €/Monat einschließlich Abfallgebühren.
Die Klägerin zu 1. hatte bereits am 17. September 2009 einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung gestellt. Diesen hatte der Rentenversicherungsträger mit Bescheid vom 25. Januar 2010 abgelehnt, da die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Ebenso war eine Ablehnung des erneuten Antrags vom 19. April 2010 mit Bescheid vom 31. Mai 2010 erfolgt.
Auf den Antrag vom 22. März 2011 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 26. Mai 2011 Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum von Juni bis November 2011 i.H.v. 645,34 €/Monat. Er berücksichtigte dabei eine Bruttokaltmiete i.H.v. 298,76 €/Monat, die tatsächlichen Heizkosten i.H.v. 47,34 €/Monat sowie die Abfallgebühren nach Fälligkeit. Für die Klägerin zu 2. ergab sich aufgrund des Einkommens aus Kindergeld, Unterhaltsvorschuss und Wohngeld kein Leistungsanspruch.
Die Klägerinnen reichten die Betriebskostenabrechnung vom 19. August 2011 für das Jahr 2010 ein. Hieraus ergab sich eine Nachzahlung i.H.v. 226,75 €. Der Beklagte bewilligte hiervon mit Bescheid vom 30. August 2011 einen Betrag i.H.v. 61,86 €.
Zum 1. September 2011 zogen die Klägerinnen in eine neue Wohnung in A., T. um. Sie reichten den Mietvertrag vom 28. August 2011 beim Beklagten ein (Bruttokaltmiete: 370 €/Monat, Heizkosten: 50 €/Monat).
Mit den Änderungsbescheiden vom 1. und 22. September 2011 berücksichtigte der Beklagte den Umzug und bewilligte für den Zeitraum von September bis November 2011 Leistungen i.H.v. 703,93 €/Monat. Dabei blieben die KdU unverändert, die Heizkosten wurden in voller Höhe und die Nachzahlung i.H.v. 61,86 € in die Berechnung eingestellt. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 25. September 2011 bewilligte der Beklagte höhere Leistungen. Er berücksichtigte nunmehr kein Einkommen bei der Klägerin zu 2. aus Wohngeld (ab September 2011) und Unterhaltsvorschuss (ab August 2011) mehr, so dass sich für diese ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen ergab.
Mit dem Widerspruch vom 25. Oktober 2011 wandten sich die Klägerinnen gegen den Änderungsbescheid vom 25. September 2011.
Der Rentenversicherungsträger teilte dem Beklagten mit Schreiben vom 27. Dezember 2011 mit, dass auch der Rentenantrag vom 8. März 2011 abgelehnt worden sei. Die erforderliche Wartezeit sei nicht erfüllt. Die volle Erwerbsminderung auf Dauer liege seit 8. März 2011 vor. Der Beklagte meldete beim Sozialamt einen Erstattungsanspruch an (Schreiben vom 9. Januar 2012). Dieses bewilligte Leistungen an die Klägerinnen ab Januar 2012. Mit Schreiben vom 20. Juli 2012 teilte der Rentenversicherungsträger dem Beklagten mit, dass im Widerspruchsverfahren eine Rente wegen voller Erwerbsminderung mit Rentenbeginn ab 1. April 2011 bewilligt worden sei (Bescheid vom 20. Juli ...