Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen Bl. Blindheit. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Trennung nach Funktionssystemen. keine Berücksichtigung von gnostischen Störungen. Beweislosigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Nachteilsausgleich Blindheit ist beschränkt auf Störungen des Sehapparats und erfasst keine gnostischen - neuropsychologischen - Störungen des visuellen Erkennens (vgl BSG vom 24.10.2019 - B 9 SB 1/18 R = BSGE 129, 211 = SozR 4-3250 § 152 Nr 2).

2. Kann bei dem behinderten Menschen wegen fehlender Reaktion auf visuelle Reize und fehlender Kommunikationsfähigkeit weder eine Sehschärfe noch die Gesichtsfeldfunktion nach Teil A Nr 6 Buchst a und b VMG überprüft werden, geht diese Beweislosigkeit zu seinen Lasten.

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 25. November 2019 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs Blindheit, also die Zuerkennung des Merkzeichens Bl bei dem Kläger und Berufungsbeklagten (nachfolgend: Kläger).

Der 1955 geborene Kläger erlitt 2012 nach einem Leitersturz aus ca. 10 Meter Höhe ein Polytrauma, welches u.a. durch eine Skalpierungsverletzung frontal bis occipital charakterisiert war. Es bestand eine kardiopulmonale Reanimationspflichtigkeit. In der Epikrise der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der Uniklinik K. vom 13. August 2012 über die intensivmedizinische Behandlung ab 16. Juli 2012 wurde u.a. ein posthypoxischer Hirnschaden diagnostiziert. Im Verlauf des stationären Aufenthalts sei es zu einem Status epilepticus gekommen. Spontanatmung über eine Trachealkanüle sei ab 6. August 2012 wieder erreicht worden. Im MRT vom 8. August 2012 hätten sich keine Hinweise auf einen diffusen axonalen Schaden, jedoch mehrere hypoxische Läsionen im Stammganglienbereich und in mehreren Rindenarealen gefunden. Der neurologische Zustand sei als irreversibel zu werten. Nach Abschluss der neurologischen Rehabilitation (27. August 2012 bis 16. November 2012) berichtete die M-Klinik in M. in der Epikrise vom 26. November 2012: Es bestehe eine prompte Lichtreaktion, der Cornealreflex (Lidschlussreflex) sei erhalten. Reaktionen auf Ansprache oder Schmerzreize bestünden nicht. Bei dem Kläger habe sich noch zum Entlassungszeitpunkt eine massive Bewusstseinsbeeinträchtigung gezeigt. Aus neuropsychologischer Sicht sei die Diagnose eines komatösen Zustands zu stellen. Nach zwischenzeitlicher Unterbringung in einer vollstationären Pflegeeinrichtung ist der Kläger seit Februar 2013 in der eigenen Häuslichkeit mit ambulanter 24-Stunden Intensivpflege untergebracht. Auf Antrag stellte der Beklagte und Berufungskläger (nachfolgend: Beklagter) einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 und die Merkzeichen B, G, aG, H, und RF ab dem 26. November 2012 fest (Bescheid vom 12. Februar 2013).

Im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens, in dessen Ergebnis aus Sicht des Beklagten keine wesentliche Änderung eingetreten war, berichtete der den Kläger behandelnde Neurologe Dr. M. am 31. Januar 2014: Eine Kommunikation sei weder verbal noch nonverbal möglich. Nach dem Bericht des Pflegeteams und der Lebensgefährtin des Klägers habe er sich seit Entlassung aus der Rehabilitation weiter erholen können. Die Kommunikation erfolge durch Handdruck und Fingerbeugung, emotionale Regungen würden sichtbar. Er fixiere die pflegenden bzw. anwesenden Personen und zeige dabei eine Blickfolgebewegung. Zunehmend entstehe der Eindruck, er könne teilweise verstehen und Zustimmung oder Ablehnung signalisieren. Die behandelnde Fachärztin für Innere Medizin Dipl.-Med. D. gab am 2. Februar 2014 an, dass weder eine verbale noch nonverbale Kommunikation möglich, zeitweise eine nonverbale Reaktion in Form des Versuchs der Fixierung mit den Augen zu vermuten sei.

Vom 26. Februar 2014 bis 2. April 2014 befand sich der Kläger zu einer stationären neurologischen Rehabilitation in der M.-Klinik für Rehabilitation in O. Diagnostisch wurde hier Folgendes festgestellt: Spastische hochgradige Tetraparese, apallisches Syndrom („Wachkoma“), Locked-in-Syndrome, lokalisationsbezogene fokale symptomatische Epilepsie und epileptische Syndrome mit komplexen fokalen Anfällen, posthypoxischer Hirnschaden mit kardiopulmonaler Reanimation, Dysphagie (Schluckstörung), PEG-Anlage 08/2012, arterielle Hypertonie, insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ II.

Am 4. Juli 2016 beantragte die Lebensgefährtin des Klägers als dessen bestellte Betreuerin für ihn die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl, worauf der Beklagte erneut Befundberichte einholte. Dipl.-Med. D. berichtete am 8. August 2016: Es liege eine anoxische Hirnschädigung vor. Der Kläger befinde sich im Wachkoma. Eine verbale Kommunikation sei nicht möglich. Zeitweise sei Blickkontakt möglich, die Fixierung auf einen Ansprechp...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge