Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegefähigkeit des Versicherten als Voraussetzung dessen Erwerbsfähigkeit

 

Orientierungssatz

1. Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen führt trotz noch sechsstündiger Einsetzbarkeit pro Arbeitstag des Versicherten zur Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes. In einem solchen Fall ist der Rentenversicherungsträger verpflichtet, einen konkreten Arbeitsplatz zu benennen.

2. Zur Erwerbsfähigkeit gehört auch das Vermögen, einen Arbeitsplatz aufsuchen zu können. Dabei ist ein abstrakter Maßstab anzuwenden. Ist ein Arbeitsplatz auf andere Art als zu Fuß erreichbar, z. B. mit einem eigenen Kraftfahrzeug bzw. mit einem Fahrrad, so ist der Arbeitsmarkt nicht verschlossen.

3. Anders ist die Wegefähigkeit dann zu beurteilen, wenn wegen zunehmender Beeinträchtigungen der Gehfähigkeit die ärztliche Verordnung eines Gehwagens erforderlich geworden ist. Sind Gehstrecken von maximal 500 Meter nur noch mit Gehwagen und Pausen möglich, ist die Wegefähigkeit aufgehoben.

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind zwischen den Beteiligten nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI) streitig.

Die am ... 1950 geborene Klägerin hat keinen Ausbildungsberuf erlernt. Nach ihren Angaben hat sie als Beiköchin, Forstarbeiterin, Reinigungskraft, Pförtnerin und Telefonistin gearbeitet. Eine 1993 durchgeführte Umschulungsmaßnahme zur Lagerverwalterin beendete sie krankheitsbedingt. Zuletzt war die Klägerin von November 1995 bis Januar 1997 als Produktionsarbeiterin (Verpacken von Käse) bei der Firma L. beschäftigt. Seitdem ist sie arbeitslos.

Bereits am 25. Februar 1994 hatte die Klägerin erstmals erfolglos einen Rentenantrag gestellt. Der weitere Rentenantrag vom 13. Januar 1997 wurde von der Landesversicherungsanstalt Sachsen-Anhalt (LVA), deren Rechtsnachfolgerin die Beklagte ist, abgelehnt (Bescheid vom 17. November 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 1998). Die hiergegen erhobene Klage (Az.: S 9 RJ 452/98) hatte das Sozialgericht Magdeburg mit Urteil vom 28. Januar 2002 abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt die hiergegen eingelegte Berufung (L 3 RJ 43/02) mit Urteil vom 15. Mai 2003 zurückgewiesen.

Am 10. Juli 2003 stellte die Klägerin den dem Streitverfahren zugrundeliegenden Rentenantrag. Wegen Beschwerden an der Halswirbelsäule (HWS), Lendenwirbelsäule (LWS), Arthrose in beiden Schultern und linksseitigen Kniebeschwerden könne sie keinerlei Arbeiten mehr verrichten. Die LVA holte daraufhin einen Behandlungs- und Befundbericht von dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. S. vom 20. August 2003 ein, der zahlreiche Arztbriefe zur Behandlung der von der Klägerin beklagten Schulterbeschwerden rechts, LWS- und HWS-Beschwerden sowie der Schmerzen des linken Kniegelenkes übersandte. Die LVA holte sodann noch einen Befund- und Behandlungsbericht von dem Facharzt u.a. für Orthopädie Dr. T. vom 30. September 2003 und von dem Facharzt für Neurochirurgie/Chirotherapie Dr. H. vom 16. Oktober 2003 ein. Dr. T. teilte als Diagnosen eine Tendinitis calcarea (Kalkablagerungen an den Sehnenansätzen) rechts sowie eine Bursitis (Schleimbeutelentzündung) im Schulterbereich rechts mit. Dr. H. nannte als Diagnosen eine Retrospondylose HWK 6/7, Neigung zu Facettengelenksblockierungen, Zustand nach Karpaltunneloperation links, Verdacht auf Involutionsdepression und Verdacht auf Rhizarthrose links. Eine Indikation für eine Operation der HWS sowie für eine Revisionsoperation bezüglich des Karpalkanals bestehe nicht. Daraufhin veranlasste die LVA eine Begutachtung der Klägerin durch den Facharzt für Orthopädie Dr. B ... Dr. B. gab in seinem Gutachten vom 29. Januar 2004 an, die Klägerin habe über ständige Schmerzen in der HWS mit Ausstrahlung im Hinterkopf und in den Nacken, über Schmerzen der rechten Schulter - besonders bei Arbeiten in Schulterhöhe und darüber - über Parästhesien beider Hände, Kreuzschmerzen und ständige Schmerzen im Kniegelenk, besonders bei längerem Gehen, Stehen und Treppensteigen sowie Schmerzen an der Ulnarseite beider Ellenbogen geklagt. Zur Psyche hat er ausgeführt, die Klägerin habe einen ausgesprochen fröhlichen und aufgeschlossenen Eindruck gemacht, ununterbrochen über ihre vielen Leiden, Behandlungen, Komplikationen und Ärzte erzählt. Sie sei teilweise nur mit Mühe zum Beantworten gezielter Fragen zu veranlassen gewesen. Als Diagnosen seien eine leichte Varusarthrose des linken Kniegelenkes ohne Bewegungseinschränkung bei Zustand nach valgisierender Osteotomie (Umstellungsoperation), ein Zervikal- und Lumbalsyndrom bei Flachrücken und deutlicher Adipositas sowie eine Epicondylitis humeri ulnaris beiderseits zu stellen. Die Klägerin könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch leichte körperliche ...

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