Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. sexueller Missbrauch des Bruders durch Halbbruder. Augenzeuge als Sekundäropfer. Schockschaden. ursächlicher Zusammenhang. Wahrscheinlichkeit. posttraumatische Belastungsstörung. ADHS. Tourette-Syndrom

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Entschädigung von sog Schockschäden Dritter als "Sekundäropfer" nach § 1 OEG.

2. Kein Anspruch auf Entschädigung als Sekundäropfer, wenn bei einem dreijährigen Kind noch drei Jahre nach dem Beobachten einer Straftat keine sicheren Anzeichen für eine posttraumatische Belastungsstörung festzustellen sind und später hervorgetretene psychische Störungen teilweise oder überwiegend nicht schädigungsbedingt sind.

3. Zur Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs bei der Anwendung von § 1 OEG.

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Umstritten ist ein Anspruch auf eine Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) i. V. mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die Eltern des am ... 1997 geborenen Klägers beantragten am 24. Januar 2003 bei dem Beklagten (Amt für Versorgung und Soziales H.) für ihren Sohn die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG). Sie gaben auf dem auf den 9. August 2002 datierten Antragsformular an, das Kind leide infolge ungewollten Dabeiseins bei sexuellem Missbrauchs des Bruders S. durch einen Halbbruder in der Zeit von Sommer bis Herbst 2000 unter physischen und psychischen Störungen in Form von Schlafstörungen, Angstzuständen und Albträumen. Der vom Beklagten beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft H. ist zu entnehmen, dass der Vater des Klägers, K-D. O., am ... 2001 Anzeige gegen seinen 1982 geborenen leiblichen Sohn C., den Halbbruder des Klägers, wegen sexuellen Missbrauchs des Bruders des Klägers erstattet hatte. C. O. gab in der Beschuldigtenvernehmung am 29. Mai 2001 an, er habe seinen damals vierjährigen Halbbruder sexuell missbraucht, indem er mit ihm in dessen Kinderzimmer im Jahr 2000 fünfmal Analverkehr im Abstand von mehreren Tagen bzw. Wochen durchgeführt habe. Die erste Tat habe er im August, die vierte im Oktober und die fünfte im November 2000 begangen. Der Bruder T. sei in zwei Fällen aus dem Schlaf erwacht und habe den sexuellen Missbrauch beobachtet, wobei er in einem Fall vom Halbbruder habe beruhigt werden müssen. Das Amtsgericht S., Jugendschöffengericht, hat C. O. mit Urteil vom 18. September 2001 wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen und des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer einheitlichen Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. In den Entscheidungsgründen hat es in Auswertung mehrerer Zeugenaussagen und des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsergebnisses im Wesentlichen ausgeführt, der Angeklagte habe die Taten an nicht mehr genau feststellbaren Tagen im Zeitraum von August bis November 2000 begangen. Geschehen sei der sexuelle Missbrauch jeweils abends im Kinderzimmer des Geschädigten und dessen Bruder T. O. Der Bruder T. sei bei den Taten im Oktober und November 2000 jeweils aufgewacht und habe die sexuellen Handlungen an seinem Bruder beobachtet, was dem Angeklagten bewusst gewesen sei.

Des Weiteren hat der Beklagte medizinische Ermittlungen durchgeführt und den Entlassungsbericht des Krankenhauses S. E. und S. B., Klinik f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie H., vom 7. Januar 2003 über die stationäre Behandlung des Klägers vom 21. Oktober bis 5. Dezember 2002 beigezogen. Hiernach waren bei dem Kläger die Diagnosen einer posttraumatischen Belastungsstörung (F 43.1) und eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F 92.8) gestellt worden. Die stationäre Aufnahme sei wegen Störungen im Sozialverhalten und der Verdachtsdiagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung auf der Grundlage eines sexuellen Missbrauchs des Kindes durch einen wesentlich älteren Halbbruder erfolgt. Im Kindergarten seien plötzlich auftretende Erregungszustände aufgefallen, Launenhaftigkeit und sexualisiertes Verhalten. Es habe bereits Anzeigen der Eltern der anderen Kinder gegeben, so dass der Junge seit September von der Kindergartenbetreuung ausgeschlossen worden sei. Der Kläger sei gemeinsam mit seinem ein Jahr älteren Bruder S. zur stationären Behandlung erschienen. Beide Kinder seien von sexueller Gewalt betroffen. Nach den Angaben der Eltern sei der Kläger schon immer ein besonders lebhaftes Kind gewesen. Er habe starke Verlustängste, Angst vor Dunkelheit und vor dem Alleinsein. In letzter Zeit habe er häufig über Angstträume geklagt. Nach der Eigenanamnese der Mutter sei die Schwangerschaft durch deren nervliche Probleme belastet gewesen. Der Verlauf sei problematisch gewesen mit ausbleibenden Herztönen des Kindes und einem Sauerstoffmangelsyndrom. Die frühkindliche...

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