Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. unrechtmäßige Feststellung einer Klagrücknahmefiktion. fehlende Klagebegründung. Betreibensaufforderung. Nichtvorlage von Unterlagen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Fiktion der Klagerücknahme kann nach § 102 SGG nur dann angenommen werden, wenn die klägerische Partei nach einer Betreibensaufforderung den Rechtsstreit für die Dauer von drei Monaten nicht betreibt und sie nicht dargelegt hat, warum das Rechtsschutzinteresse - trotz des Zweifels am Fortbestehen - nicht entfallen ist.

2. Im Streit um Leistungen nach dem SGB II kann nur ausnahmsweise auf ein zwischenzeitlich entfallenes Rechtsschutzinteresse der klägerischen Partei geschlossen werden.

3. Eine fehlende Klagebegründung allein vermag einen solchen Ausnahmefall nicht zu rechtfertigen.

4. Werden trotz Auflagen des Gerichts angeforderte Unterlagen nicht vorgelegt, rechtfertigt dies idR nicht die Annahme, das Interesse der klagenden Partei an der Fortführung des Rechtsstreits sei entfallen. Ein solches Verhalten ist vielmehr in der Begründetheit des Begehrens zu würdigen.

 

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 7. April 2010 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit S 11 AS 956/07 nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG beendet worden ist.

Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Dessau-Roßlau zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

Der Kläger wendet sich gegen einen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau, in dem dieses seine Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Fiktion einer nach § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingetretenen Klagerücknahme zurückgewiesen hat. In der Sache begehrt der Kläger von der Beklagten u.a. die Übernahme der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung i.H.v. 800,00 EUR monatlich seit Antragstellung (25. Oktober 2004) sowie die Gewährung eines Fahrtkostenzuschusses für den Besuch bei seinen Kindern. Gegen den Leistungsbescheid vom 11. August 2006, mit dem die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1. September bis 30. November 2006 u.a. Kosten der Unterkunft und Heizung i.H.v. 258,93 EUR bewilligte, legte er erfolglos Widerspruch ein. Am 29. Mai 2007 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Dessau-Roßlau erhoben (S 11 AS 956/07) und sein Begehren weiterverfolgt.

Das Sozialgericht hat am 22. Oktober 2008 einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage durchgeführt, zu dem der Kläger persönlich erschienen ist. Er ist beauflagt worden, die Adresse seines Sohnes K. (Vermieter der vom Kläger angemieteten Wohnung) mitzuteilen, Verdienstbescheinigungen für das gesamte Kalenderjahr 2006 sowie alle Kontoauszüge zum Nachweis der Mietzahlungen im Jahr 2006 einzureichen. Er hat daraufhin geäußert, die Mietzahlungen seien nicht klassisch auf ein Konto überwiesen worden. Vielmehr sei die Zahlung dadurch erfolgt, dass er für den Vermieter Baurechnungen und andere Rechnungen beglichen habe. Unter dem 8. Januar 2009 hat das Sozialgericht den Kläger an die Übersendung der angeforderten Unterlagen erinnert und angefragt, ob eine Begründung der Klage erfolgen werde.

Mit Schreiben vom 23. März 2009 hat das Sozialgericht an die Beantwortung und Erledigung des gerichtlichen Schreibens vom 8. Januar 2009 erinnert. Es hat eine Frist von vier Wochen bestimmt und vorsorglich auf die Regelung des § 102 Abs. 2 SGG hingewiesen. Unter dem 5. Mai 2009 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers um die Gewährung einer Fristverlängerung gebeten. Der Kläger sei ortsabwesend und könne daher die Unterlagen nicht beibringen. Mit Schreiben vom selben Tag hat er im Nachgang die Anschrift des Sohnes des Klägers K. mitgeteilt; mit Schreiben vom 25. Mai 2009 hat er um erneute Fristverlängerung bis 15. Juni 2009 gebeten. In seiner Kanzlei sei die Neuinstallation des Computersystems erforderlich geworden. Innerhalb dieser Frist ging kein Schriftsatz des Klägers ein. Unter dem 23. Juni 2009 hat das Sozialgericht den Kläger darauf hingewiesen, dass nach § 102 Abs. 2 SGG die Klage als zurückgenommen gelte, wenn er das gerichtliche Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate nicht betreibe. Gleichzeitig hat es den Kläger nochmals aufgefordert, innerhalb von drei Monaten das Verfahren weiter zu betreiben und die gerichtliche Verfügung vom 8. Januar 2009 zu erledigen. Dabei gehe es nicht nur um die Einreichung einer Klagebegründung, sondern vor allem um die Einreichung der im Erörterungstermin angeforderten Unterlagen (Gehaltsnachweise, Nachweise über tatsächliche Mietzahlungen). Sollte dies nicht fristgerecht geschehen, träten die vorstehend genannten Folgen ein. Das Schreiben ist dem Kläger am 7. Juli 2009 zugestellt worden.

Der Kläger hat daraufhin die Klage mit Schriftsatz vom 28. August 2009, der per Fax beim Sozialgericht eingegangen ist, begründet und auf die sich in der Anlage befindlichen Unterlagen verwiesen. Anlagen hat der Kläger jedoch per Fax nicht übersandt. Einen Originalschrif...

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