Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtsverfahren. Voraussetzungen der Klagerücknahmefiktion bei unterbliebenen Mitwirkungshandlungen

 

Orientierungssatz

1. Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Anwendung findet die Vorschrift als vereinfachte Beendigung eines Verfahrens, an dessen Fortführung der Kläger erkennbar kein Interesse mehr hat.

2. Bei der Auslegung und Anwendung des § 102 Abs. 2 SGG ist der strenge Ausnahmecharakter der Norm zu beachten.

3. Eine Verletzung der sich aus § 103 SGG ergebenden prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers kann Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses liefern und tut dies in der Regel dann, wenn das Gericht konkrete Auflagen verfügt hat. Die Betreibensaufforderung muss sich dabei hinreichend konkret auf bestimmte verfahrensfördernde Handlungen beziehen, die der Kläger vorzunehmen hat. § 102 Abs. 2 SGG ist kein Hilfsmittel zur "bequemen Erledigung lästiger Verfahren" oder zur Sanktionierung prozessleitender Verfügungen.

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 5. März 2013 wird aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Stendal zum Aktenzeichen S 5 AS 420/08 nicht durch die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG beendet worden ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht bei Verfahrensabschluss vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger und Berufungsführer wenden sich gegen ein Urteil des Sozialgerichts Magdeburg, mit dem dieses ihre Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Fiktion einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abgewiesen und die Verfahrensbeendigung festgestellt hat. In der Sache begehren die Kläger vom Beklagten die Gewährung höherer Leistungen für die Kosten für die Unterkunft und Heizung im Rahmen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Oktober 2007 bis 31. März 2008.

Die am ... 1973 geborene Klägerin ist mit dem am ... 1974 geborenen Kläger verheiratet. Beide beziehen mit ihren Kindern seit dem 1. Januar 2005 mit Unterbrechungen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Sie bewohnen ein Eigenheim auf einem im Eigentum der Klägerin stehenden Grundstück, welches diese im Jahr 2004 erworben hat. Über das Wohnhaus haben die Kläger mit der Großmutter des Klägers mit Wirkung zum 1. Juni 2004 einen Mietvertrag abgeschlossen, der auf den 20. Mai 2004 datiert und eine monatliche Gesamtmiete von 321,20 EUR ausweist. Ausweislich eines Schreibens der Großmutter des Klägers vom 14. März 2005 soll die Miete seit dem 1. April 2005 wegen einer Erhöhung der vorauszuzahlenden Betriebskosten 425,76 EUR betragen. Die Wirksamkeit des Mietvertrages sowie die Höhe der den Klägern zustehenden Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) sind zwischen den Beteiligten im Einzelnen streitig.

Mit Bescheid vom 19. Oktober 2007 bewilligte der Beklagte den Klägern und deren Kindern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne KdUH für den Zeitraum vom 1. Oktober 2007 bis 31. März 2008 in Höhe von monatlich 732 EUR. Im Rahmen eines von den Klägern wegen der Nichtgewährung von Leistungen für KdUH beim Sozialgericht Stendal eingeleiteten Verfahrens des einstweiligen Rechtschutzes, welches im Übrigen erfolglos blieb, änderte der Beklagte mit Bescheid vom 25. Januar 2008 die Leistungsgewährung dahingehend ab, dass für den vorgenannten Zeitraum insgesamt monatlich 848 EUR gewährt wurden, da den Klägern ein Anspruch auf Leistungen unter Berücksichtigung des Mietvertrages nicht zustehe. Dagegen legten die Kläger Widerspruch ein, mit dem sie geltend machten, dass die KdUH in diesem Zeitraum auf der Grundlage des vorgelegten Mietvertrages zu bewilligen seien. Mit Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 2008 wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger zurück und führte ergänzend aus: Die KdUH könnten lediglich in Höhe von 116 EUR/Monat Berücksichtigung finden, da der vorgelegte Mietvertrag nicht wirksam und weitere Aufwendungen durch die Kläger nicht nachgewiesen seien.

Mit ihrer am 4. Juni 2008 beim Sozialgericht Stendal erhobenen Klage (S 5 AS 420/08) haben die Kläger ihr Begehren weiter verfolgt und vorgetragen, die Aufwendungen für die KdUH seien vom Beklagten in voller Höhe entsprechend der mietvertraglichen Regelung zu übernehmen. Der Wirksamkeit des Mietvertrages stehe nicht entgegen, dass die Vermieterin nicht Eigentümerin des Anwesens sei, da die Eigentümerstellung zivilrechtlich keine Voraussetzung für eine vertragliche Verpflichtung sei. Die Vermieterin habe im Übrigen alle Kosten des Grundstücks, einschließlich der Betriebskosten, getragen. Die Kläger haben im Verfahren mit Schriftsatz vom 14. März 2009 den Mietvertrag vom 20. Mai 2004 sowie das Schreiben der Vermieterin vom 14. März 2005 übersandt, die bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegt w...

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