Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. außergewöhnliche Gehbehinderung. aufs Schwerste eingeschränkte Gehfähigkeit. Gehstrecke über 50 Meter ohne Pause. Notwendigkeit einer weit geöffneten Wagentür

 

Leitsatz (amtlich)

Die Voraussetzungen des Merkzeichens aG liegen nicht vor, wenn das Gehvermögen nicht vom ersten Schritt an außergewöhnlich beeinträchtigt ist. Dagegen spricht, wenn Wegstrecken von 30 bis 50 m zurückgelegt werden können und danach erst eine Pause eingelegt werden muss. Auch die Benutzung nur eines Gehstocks spricht gegen eine solche Beeinträchtigung. Die Notwendigkeit des vollständigen Öffnens der Pkw-Türen rechtfertigt nicht die Feststellung des Merkzeichens aG.

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) vorliegen.

Bei dem am ... 1953 geborenen Kläger stellte der Beklagte mit Bescheid vom 14. Dezember 1992 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie das Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) wegen einer Hüftendoprothese links, eines Wirbelsäulenleidens, einer Beinverkürzung und eines Leberleidens mit Komplikationen fest. Mit Neufeststellungsantrag vom 29. Juni 2006 machte der Kläger eine Verschlimmerung seiner Behinderungen aufgrund einer beidseitigen Hüftendoprothese geltend. Außerdem teilte er eine Beinverkürzung von 4,5 cm mit Muskelverschmächtigung, ein Wirbelsäulenleiden und Diabetes mellitus mit. Der Facharzt für Orthopädie Dr. B. berichtete im Juli 2006 über einen guten Sitz der beidseitigen Hüftendoprothesen, ein Lendenwirbelsäulensyndrom und eine somatoforme Störung. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin H. diagnostizierte einen insulinpflichtigen Diabetes mellitus und eine im Jahr 1995 festgestellte Leberzirrhose (der Kläger sei trockener Alkoholiker). Unter Hinweis auf die erhobenen Laborbefunde teilte sie mit, derzeit bestünden keine Leberbeschwerden mehr. Mit Bescheid vom 22. Februar 2002 lehnte der Beklagte die Neufeststellung ab.

Mit Antrag vom 28. April 2010 begehrte der Kläger das Merkzeichen aG, weil er Wegstrecken über 200m nur noch unter Schmerzen zurücklegen könne. Der Beklagte holte zunächst einen Befundschein der Ärztin H. ein, die eine orthopädische Schuhversorgung mitteilte und Bewegungseinschränkungen der Hüftgelenke, einen Hallux valgus sowie einen beidseitigen Plattfuß diagnostizierte. Außerdem holte der Beklagte einen Befundschein des Facharztes für Orthopädie/Chirotherapie Dipl.-Med. B. vom 7. Juni 2010 ein, der über zeitweise Hüftgelenksbeschwerden berichtete. Der Kläger trage orthopädische Straßenschuhe und nutze einen Gehstock. Der ärztliche Dienst des Beklagten bewertete daraufhin die Behinderungen des Klägers weiterhin mit einem GdB von 80 (Leberleiden mit Komplikationen GdB 70, Funktionsminderung der Hüftgelenke in Folge Endoprothesenimplantation beidseits und Beinverkürzung links GdB 40, Diabetes mellitus GdB 30, Fußfehlform beidseits GdB 30, Bewegungseinschränkung des linken Kniegelenkes GdB 10, Wirbelsäulenleiden GdB 10). Das Merkzeichen sei aus den Befunden nicht ableitbar. Dem folgend lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 20. Juli 2010 den Antrag des Klägers ab.

Dagegen legte der Kläger am 3. August 2010 Widerspruch ein. Außerdem stellte er am 1. Dezember 2010 aufgrund eines Prostatakarzinoms einen Neufeststellungsantrag und beantragte nochmals das Merkzeichen aG. Aufgrund der Epikrise des Klinikums M. vom 29. November 2010 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 9. März 2011 beim Kläger ab 1. Dezember 2010 einen GdB von 90 fest und lehnte die Feststellung des Merkzeichens aG erneut ab. Außerdem teilte er mit, dass dieser Bescheid gemäß § 86 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des anhängigen Vorverfahrens werde. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. April 2011 stellte der Beklagte beim Kläger ab 1. Dezember 2010 einen GdB von 100 fest und wies den weitergehenden Widerspruch hinsichtlich des Merkzeichens zurück.

Am 23. Mai 2011 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) H. Klage erhoben und auf seine Einschränkungen im Bereich der Füße, der Hüfte, der Kniegelenke und die damit verbundenen Kraftminderungen verwiesen. Auch leide er an den Folgen des Prostatakarzinoms und an Diabetes mellitus. Zudem sei aufgrund seines fortschreitenden Alters eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes eingetreten. Dadurch werde seine Bewegungsfähigkeit weiter eingeschränkt. Er sei dauerhaft auf seinen Gehstock angewiesen und könne nur Gehstrecken von 200m schmerzfrei zurücklegen. Der Beklagte hat dem entgegengehalten, Alterserscheinungen könnten bei der Anerkennung von Behinderungen und Merkzeichen nicht berücksichtigt werden.

Das SG hat zunächst weitere Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Die Ärztin H. hat am 17. Februar 2013 über eine eingeschränkte Gehfähigkeit mit einem schauk...

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