Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen Erwerbsminderung. Beurteilung des sozialmedizinischen Leistungsvermögens. Diagnosestellung. Antrag nach § 109 SGG
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Antrag nach § 109 SGG ist spätestens dann innerhalb einer angemessenen Frist von sechs Wochen zu stellen, wenn der Beteiligte erkennen muss, dass das Gericht keine weiteren Ermittlungen von Amts wegen mehr beabsichtigt. Dies ist der Fall, wenn das Gericht darauf hinweist, dass weitere Ermittlungen nicht beabsichtigt sind und gleichzeitig anfragt, ob das Rechtsmittel zurückgenommen wird. Ab Zugang des Hinweises beginnt die Frist iSv § 109 Abs 2 SGG.
2. Der im drei Monate später stattfindenden Termin zur mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellte Antrag, von einem noch zu benennenden Facharzt für Psychiatrie ein Gutachten nach § 109 SGG einzuholen, stellt keinen vollständigen Antrag nach § 109 SGG dar und ist zudem verspätet gestellt.
3. Maßgebend für die Beurteilung des sozialmedizinischen Leistungsvermögens ist nicht in erster Linie die exakte Diagnosestellung und deren Zuordnung nach der ICD, sondern die Zusammenschau der Auswertung der erhobenen Befunde der behandelnden Ärzte, die Beobachtungen und Befunderhebungen aller tätig gewordener Gutachter sowie die Alltagsgestaltung, die Veränderungsmotivation sowie der sekundäre Krankheitsgewinn der Klägerin.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI) streitig.
Die am ... 1970 geborene Klägerin durchlief nach dem Abschluss der 10. Schulklasse vom 1. September 1987 bis zum 15. Juli 1989 eine Ausbildung zum Facharbeiter für Lebensmitteltechnik mit der Spezialisierung "Getränke". Im Anschluss daran war sie in diesem Beruf bis Juli 1990 und dann - mit Unterbrechungen wegen Arbeitslosigkeit - von September 1991 bis Dezember 1995, von Januar 1997 bis Juli 1998 und ab April 1999 als Reinigungskraft, zuletzt bis zu ihrer Arbeitsunfähigkeit am 26. Januar 2005 in Teilzeit im Geschäft ihres Ehemannes versicherungspflichtig tätig.
Die Klägerin beantragte am 20. Juli 2006 bei der Beklagten die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung und machte geltend, seit Januar 2005 wegen Depressionen keine Tätigkeiten mehr verrichten zu können. Die Beklagte zog zunächst das sozialmedizinische Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Sachsen-Anhalt vom 18. Oktober 2005 bei, wonach eine seit mehreren Jahren anhaltende leichte bis mittelgradige depressive Herabgestimmtheit - Dysthymia - vorliege. Bei einem hohen sekundären Krankheitsgewinn mit Entpflichtung von alltäglichen Anforderungen sei keine Therapie- oder Veränderungsmotivation der Klägerin gegeben. Nach dem Abschluss der dringend empfohlenen psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme könne mit der Wiederaufnahme einer Tätigkeit gerechnet werden.
Die Beklagte ließ nach Einholung eines Befundberichtes des Arztes Dr. M. vom 21. August 2006 die Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des C.-v.-B.-Klinikums M. W., Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie, das Gutachten vom 13. Dezember 2006 erstatten. Die Klägerin habe bei der ambulanten Untersuchung am 11. Dezember 2006 angegeben, kaum mehr das Haus zu verlassen und das Interesse an all ihren Hobbys verloren zu haben. Sie beklage einen Antriebsverlust, der es ihr unmöglich mache, die Aufgaben im Haushalt zu erfüllen; ihr Ehemann erledige diese Dinge am Wochenende. Die medikamentöse Therapie sei bei einer unzureichenden Beeinflussung der Symptomatik immer wieder umgestellt worden. Eine Besserung werde von der Klägerin bis heute verneint, wobei deren Compliance bezüglich der Einnahme der verordneten Medikation fraglich erscheine. Weiterführende Therapieangebote habe die Klägerin bisher nicht wahrgenommen. Gründe hierfür dürften in einer mangelnden Veränderungsmotivation bei einem fehlenden Leidensdruck und erheblichen sekundären Krankheitsgewinn zu sehen sein. Frau W. gab als Diagnose eine leichtgradige depressive Episode und eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ an. Während die Depression im klinischen Eindruck eher leichtgradig sei, vermittelten die Schilderungen der Klägerin eine schwere depressive Störung. Diese Diskrepanz sei auf manipulative Tendenzen und Aggravationstendenzen zurückzuführen, die in der Begutachtung sehr deutlich gewesen seien. Ausdruck hierfür sei auch das sehr schlechte Ergebnis des Tests zur Erfassung von Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen. Im kognitiven Bereich seien jedoch keine wesentlichen Einschränkungen von Konzentration, Aufmerksamkeit, Auffassung aufgefallen, allerdings erscheine das intellektuelle Ausgangsniveau eher im unteren Durchschnittsbereich angesiedelt zu sein. Merkfähigkeit sowie Ged...