Entscheidungsstichwort (Thema)
Elterngeldrecht. Dauer des Elterngeldbezugs bei Frühgeburten vor dem 1.9.2021. Bezug von Mutterschaftsgeld in den ersten Lebensmonaten des Kindes. Verbrauch der ersten Elterngeldmonate. Verminderung der Summe des insgesamt zustehenden Elterngelds. keine Rückwirkung der Neuregelung des § 4 Abs 5 BEEG auf zuvor geborene Kinder. Verfassungsrecht. Gleichheitssatz. Verhinderung von zweckidentischen Doppelleistungen
Leitsatz (amtlich)
1. Auch im Fall einer Frühgeburt sind Mutterschaftsleistungen auf das Elterngeld anzurechnen bzw gelten die Lebensmonate des Kindes, in denen diese Leistungen zustehen, als Monate, für die Basiselterngeld bezogen wird.
2. Die Neuregelung des § 4 Abs 5 BEEG über die Verlängerung der Bezugsdauer bei Frühgeburten ist erst am 1.9.2021 in Kraft getreten und kann bei zuvor erfolgten Geburten nicht angewendet werden.
3. Die bei Frühgeburten bewirkte Verkürzung der Dauer des Elterngeldbezuges durch die Anrechnung der in diesen Fällen nachgeburtlich länger gewährten Mutterschaftsleistungen ist durch hinreichend gewichtige sachliche Gründe gerechtfertigt. Denn Mutterschaftsgeld und Arbeitgeberzuschuss sind ebenso sowie Elterngeld Erwerbsersatzeinkommen, sodass der Gesetzgeber zweckidentische Doppelleistungen für zeitlich kongruente Bezugszeiträume ausgeschlossen hat.
Orientierungssatz
Zum Leitsatz 3: Anschluss an BSG vom 20.12.2012 - B 10 EG 19/11 R = SozR 4-7837 § 3 Nr 1.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 31. Januar 2023 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin und Berufungsbeklagte (im Folgenden nur: Klägerin) begehrt eine längere Gewährung von Elterngeld Plus nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) bzw. wendet sich dagegen, dass die in ihrem Fall wegen einer Frühgeburt nur nachgeburtlich zustehenden Mutterschaftsleistungen den Elterngeldanspruch konsumieren.
Die im Jahr 1986 geborene und verheiratete Klägerin entband ihr erstes Kind (V. H.) nicht an dem für eine Spontangeburt prognostizierten Termin (30. April 2021), sondern schon am 27. Januar 2021.
Vor der Geburt war sie in zwei Beschäftigungsverhältnissen angestellt. Im ersten erzielte sie als angestellte Rechtsanwältin ein Bruttoeinkommen für Dezember 2019 i.H.v. 3.500 Euro sowie von Januar bis Mai und von Juli bis Dezember 2020 i.H.v. monatlich 3.900 Euro, im Juni 2020 i.H.v. 2.340 Euro. Bei dem zweiten Arbeitsverhältnis handelte es sich um ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis. In diesem verdiente sie für den vorgenannten Zeitraum je 450 Euro monatlich. Im Zeitraum vom 15. Juni bis 26. Juni 2020 hatte sie wegen einer - in einer vorausgehenden Schwangerschaft - schwangerschaftsbedingt erlittenen Erkrankung Krankengeld (878,40 Euro) erhalten.
Nach der Entbindung erhielt sie von ihrer gesetzlichen Krankenversicherung im Zeitraum vom 27. Januar bis 2. Juni 2021 Mutterschaftsgeld i.H.v. 13 Euro je Kalendertag (insgesamt 1.651,00 Euro). Von ihrem ersten Arbeitgeber erhielt sie einen Zuschuss zum Mutterschaftsgeld für den genannten Zeitraum i.H.v. 81,33 Euro netto je Kalendertag. Von ihrem weiteren Arbeitgeber erhielt sie für den genannten Zeitraum einen solchen Zuschuss i.H.v. 15 Euro je Kalendertag.
Die Klägerin beantragte am 1. April 2021 bei der Beklagten und Berufungsklägerin (im Folgenden nur: Beklagte) für sich einkommensabhängiges Elterngeld im Zeitraum ab der Geburt für 24 Monate („vom 27.01.2021 bis zum 27.01.2023“). Für diesen Zeitraum nahm sie, wie von den Arbeitgebern bestätigt wurde, Elternzeit in Anspruch.
Die Beklagte teilte ihr mit Schreiben vom 6. April 2021 mit, dass die Gewährung von Elterngeld für 24 Lebensmonate nicht möglich sei. Für den Zeitraum 27. Januar bis 2. Juni 2021 bestünden Ansprüche auf Mutterschaftsleistungen. Diese Leistungen seien auf das Elterngeld anzurechnen. Insofern gelte jeder Lebensmonat als in Anspruch genommener Basiselterngeldmonat. Somit seien bereits fünf Lebensmonate für das Basiselterngeld verbraucht worden. Dementsprechend bestünde noch Anspruch auf Basiselterngeld für sieben Monate oder, falls stattdessen Elterngeld Plus beansprucht werde, Anspruch auf 14 Monate. Die Klägerin solle festlegen, welche Variante sie beantrage.
Die Klägerin antwortete schriftlich, dass sie wegen der absehbaren besonderen Bedürfnisse ihres Kindes Elterngeld Plus beantrage. Nach ihrer Auffassung dürften die Leistungen nach dem Mutterschutzgesetz (MuSchG), soweit sie für den Zeitraum von sechs Wochen vor einer Geburt vorgesehen seien, bei ihr nicht zu einer Minderung des Elterngeldanspruchs führen. Eine Anrechnung würde eine nicht nachvollziehbare Benachteiligung für Mütter mit frühgeborenen Kindern beinhalten. Gemäß der mit dem Schreiben eingereichten Tabelle wollte sie für die ersten beiden Lebensmonate Basiselterngeld sowie für den Zeitraum zwisch...