Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. unabweisbarer laufender besonderer Bedarf. Fahrtkosten für Besuche beim dauerhaft in einer Einrichtung des Maßregelvollzugs untergebrachten Ehegatten
Leitsatz (amtlich)
1. Aufwendungen für Fahrtkosten einer verheirateten und nicht im familienrechtlichen Sinne getrennt lebenden SGB II-Leistungsberechtigten zum Besuch ihres dauerhaft in einer stationären Einrichtung (des Maßregelvollzugs) untergebrachten Ehemanns begründen einen Mehrbedarf iS von § 21 Abs 6 SGB II.
2. Beruht das Fehlen der häuslichen Gemeinschaft nicht auf der autonomen Willensentscheidung der Ehegatten, sondern resultiert aus einer richterlichen Entscheidung, die das Aufenthaltsbestimmungsrecht eines Ehepartners beschränkt, begründen die regelmäßig anfallenden Fahrtkosten für den Besuch einen unabweisbaren Sonderbedarf. Denn die Eheleute können aus eigenem Entschluss die häusliche Gemeinschaft nicht wiederherstellen.
3. Wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der ehelichen Lebensgemeinschaft ist es geboten, in dieser besonderen Lebenssituation für die geltend gemachten zwei Besuchsfahrten monatlich Mehrbedarfsleistungen nach § 21 Abs 6 SGB II zu gewähren.
Tenor
Der Bescheid des Beklagten vom 26. Mai 2015 wird abgeändert, soweit er dem Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 29. Januar 2015 entgegensteht.
Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Rechtszüge zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Beklagte und Berufungskläger (im Weiteren: Beklagter) wendet sich im Berufungsverfahren gegen das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 29. Januar 2015, soweit er zur Gewährung eines Mehrbedarfs gemäß § 21 Abs. 6 SGB II an die Klägerin und Berufungsbeklagte (im Weiteren: Klägerin) für den Bewilligungszeitraum von März bis August 2013 verurteilt worden ist.
Die 1954 geborene Klägerin und ihr 1952 geborener Ehemann bewohnten eine 65 m² große Wohnung in R., für die eine monatliche Gesamtmiete in Höhe von 504 EUR zu zahlen war (Kaltmiete: 240 EUR, Betriebskosten: 132 EUR, Heizkosten: 132 EUR). Die drei gemeinsamen Kinder leben nicht im elterlichen Haushalt. Mit dem am ... 2000 geboren Sohn J. finden nach der Bescheinigung des Familienzentrums D. vom 27. März 2012 seit Oktober 2006 einmal wöchentlich Umgangstermine statt. Dafür erhält die Klägerin seit März 2012 monatliche Mehrbedarfsleistungen in Höhe von 12,00 EUR (Fahrtkosten von je 3,00 EUR für vier Kontakte monatlich).
Die Klägerin erzielte aus einer Nebentätigkeit ein monatliches Einkommen von zumeist 30 EUR bis maximal 40 EUR. Ihr Ehemann hatte kein Einkommen. Als Bedarfsgemeinschaft bezogen sie und ihr Ehemann vom Beklagten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Mit Veränderungsanzeige vom 19. März 2012 informierte die Klägerin den Beklagten, ihr Ehemann sei am 14. März 2012 in Haft genommen worden. Unter dem 22. März 2012 bestätigte die S. gGmbH, Landeskrankenhaus U., der Ehemann befinde sich seit 14. März 2012 gemäß § 63 Strafgesetzbuch (StGB) zur stationären Behandlung im Landeskrankenhaus für Forensische Psychiatrie U. Über die Dauer der Behandlung könnten keine Angaben gemacht werden. Im Zeitraum vom 3. Mai 2012 bis zum 13. Juni 2013 war der Ehemann in der Außenstelle der Einrichtung in L. untergebracht, im Übrigen in der Zentrale in U.
Die Klägerin beantragte beim Beklagten die Erstattung von Fahrtkosten nach U. Bei der Festnahme habe der Ehemann weder Wechselkleidung noch Waschzeug mitnehmen können. Das habe sie ihm gebracht und für ein "Sachsen-Anhalt-Ticket" der Bahn 23,00 EUR sowie für zwei Bus-Einzelfahrscheine je 1,50 EUR aufwenden müssen. Am 2. April 2012 beantragte sie Fahrtkosten nach U. zur Wahrnehmung eines Gesprächstermins mit der Therapeutin des Ehemanns. Am 10. April 2012 beantragte sie die Übernahme von Fahrtkosten zur Wahrnehmung von Besuchstagen am Wochenende. Zur Begründung führte sie aus, sie wolle ihren Ehemann einmal pro Woche sehen und könne die Kosten für die Fahrten nicht aus der Regelleistung aufbringen. Sie seien schon lange verheiratet und brauchten einander.
Mit gesonderten Bescheiden aus Mai und August 2012 lehnte der Beklagte die Anträge auf Fahrtkostenerstattung ab und führte aus, die Besuche des Ehemanns in der stationären Einrichtung seien kein unabweisbarer Bedarf. Sie seien nicht mit der Wahrnehmung des Umgangsrechts mit minderjährigen Kindern gleichzustellen. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheiden vom 27. Juli und 13. November 2012 zurück. Dagegen erhob die Klägerin fristgerecht Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG, Az.: S 2 AS 2044/12) für den Zeitraum von März bis August 2012.
Im Bewilligungsbescheid für den Folgezeitraum von September 2012 bis Februar 2013 gewährte der Beklagte der Klägerin Leistungen für den Regelbedarf und für die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU), aber k...