Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Krankenbehandlung. Leistung bei Transsexualität. Bewertung des Anspruchs auf körperliche Eingriffe durch regelmäßig fehlenden Behandlungserfolg durch Psychotherapie. Eingriff in einen gesunden Körper als "ultima ratio". Grenze der Einwilligungsfähigkeit im Falle einer intellektuellen Minderbegabung des Versicherten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Rechtsgrundlage für eine Leistung der Krankenversicherung bei Transsexualität ist § 27 Abs 1 SGB 5; zur Ausfüllung des Begriffs "Krankheit" kann auf § 116b SGB 5 bzw das TSG zurückgegriffen werden.

2. Bei Transsexualität kann regelmäßig mit den Mitteln der Psychotherapie kein Behandlungserfolg erzielt werden. Diese medizinischen Grenzen der Psychotherapie bei Transsexualität können es grundsätzlich rechtfertigen, einen Anspruch auf körperliche Eingriffe anders zu bewerten, als dies im Allgemeinen bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen mittels Eingriffen in den ansonsten gesunden Körper der Fall ist.

3. Als "ultima ratio" kann ein Anspruch auf Eingriff in einen gesunden Körper zur Krankenbehandlung bestehen.

4. Ob im Falle einer intellektuellen Minderbegabung des Versicherten die Grenze der Einwilligungsfähigkeit für einen körperlichen Eingriff noch eingehalten ist, muss nach den Umständen des Einzelfalls entschieden werden.

 

Orientierungssatz

Zu Leitsatz 3 vgl BSG vom 17.10.2006 - B 1 KR 104/06 B.

 

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 1. März 2012 wird zurückgewiesen

Die Beklagte hat auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Kostenübernahme für eine Hormonbehandlung bei Transsexualität Mann-zu-Frau.

Die Klägerin ist 1968 geboren und bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie ist anatomisch männlich geboren. Seit dem 17. Dezember 2003 trägt sie nach Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen des Transsexuellengesetzes den weiblichen Vornamen. Sie leidet an einer intellektuellen Minderbegabung.

In einem Gutachten vom 9. Oktober 1999 diagnostizierte Privatdozent Dr. B. eine leichte Intelligenzminderung (sprachliche Intelligenz 56 IQ und handlungspraktische Fähigkeiten 70 IQ). Weiterhin liege ein manifester Transsexualismus vor. Es bestehe der dringende Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlungsoperation. Naturgemäß sei ein Abwägen der Vorteil und Nachteile einer solchen Operation bei der vorliegenden Intelligenzbeeinträchtigung nicht vollständig in gleicher Weise wie bei einem umfassend gebildeten und intellektuell gut strukturierten Menschen gegeben; die Grenze der Einwilligungsfähigkeit werde aber deutlich überschritten.

Im Jahre 2004 lehnte die Beklagte einen Antrag der Klägerin wegen einer Hormonbehandlung ab führte zur Begründung aus, dass die Klägerin eine Lösung ihrer Probleme ausschließlich darin sehe, "dass er äußerlich eine Frau sein möchte, um dann auch Frauenkleider tragen zu dürfen. Die vom Versicherten gemachten Angaben bezüglich seines Wunsches auf eine Geschlechtsumwandlung wirkten sehr infantil zum Teil als Fluchtreaktion bei den zahlreichen Problemen".

Im Jahre 2008 beantragte die Klägerin erneut eine Hormontherapie. Die Beklagte zog ein Gutachten von Privatdozent Dr. S. - Psychologischer Psychotherapeut - vom 1. Juli 2007 bei. Dieser kam darin zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin eine Transsexualität vorliege, die durch Psychotherapien nicht heilbar sei. Er befürworte die Einleitung der längst überfälligen Hormonbehandlung. Eine weitere - operative - Maßnahme sollte angedacht werden, wenn die weiblichen Hormone etwa ein halbes Jahr lang genommen worden seien.

Die Beklagte holte ein sozialmedizinisches Gutachten des MDK Sachsen-Anhalt von Dipl.-Med. L. vom 20. März 2009 ein. Dieser bestätigte die Diagnose Transsexualismus; hieran sei offensichtlich nach Bestätigung durch mehrere verschiedene Gutachter nicht zu zweifeln. Im Rahmen der Begutachtung hätte jedoch festgestellt werden müssen, dass die Klägerin die Möglichkeiten der Hormonbehandlung idealisiere und völlig unrealistisch einschätze. Sie könne weder Wirkungen noch Nebenwirkungen noch langfristige Folgen abschätzen. Die Vorstellungen der Klägerin im Hinblick auf die erhofften Veränderungen durch Hormone und bessere Akzeptanz seien auch unter Berücksichtigung der konstitutionellen Voraussetzungen unrealistisch. Aus gutachterlicher Sicht bestünden erhebliche Zweifel, dass die Klägerin die Nachhaltigkeit des irreversiblen Eingriffs (Hormontherapie und operative Maßnahmen) und die langfristigen Folgen abschätzen könne. Aus diesem Grunde könne eine Hormontherapie nicht befürwortet werden.

Mit Bescheid vom 26. März 2009 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf eine Hormonbehandlung ab. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein und begründete diesen näher mündlich. Daraufhin holte die Beklagte erneut ein Gutachten des MDK durch Dr. B. ein, welches die bisherige Ansicht des MDK bestätigte. Mit Widers...

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