Entscheidungsstichwort (Thema)
Entscheidung durch Gerichtsbescheid. gesetzlicher Richter. Überraschungsentscheidung. rechtliches Gehör
Leitsatz (amtlich)
1. Entscheidet ein Gericht durch Gerichtsbescheid, obwohl die dafür in § 105 Abs 1 SGG vorgeschriebenen Voraussetzungen nicht vorliegen, so liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz des gerichtlichen Richters iS von Art 101 Abs 1 S 2 vor (vgl BSG vom 16.3.2006 - B 4 RA 59/04 R = SozR 4-1500 § 105 Nr 1).
2. Kündigt das Gericht eine weitere Beweisaufnahme an und ergeht dann einen Entscheidung, ohne dass die angekündigte Beweisaufnahme durchgeführt worden ist, so liegt in der Regel eine Überraschungsentscheidung vor, die den Grundsatz auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.
Tenor
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stendal vom 1. August 2006 wird aufgehoben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht Stendal zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob Gesundheitsstörungen der Klägerin im rechten Kniegelenk Folgen eines am 25. November 1974 erlittenen Unfalls sind und dieser deshalb eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu zahlen ist.
Die am 1960 geborene Klägerin erlitt am 25. November 1974 während des Schulsports einen Unfall. Nach der Unfallschaden-Anzeige für die Staatliche Versicherung der DDR vom 29. November 1974 kam die Klägerin bei einer Hocke über das Pferd zunächst sicher zum Stand. Beim Bewegen der Knie habe es dann im rechten Knie gekracht und sie habe Schmerzen im Knie gespürt. Es sei zu “Verrenkungen im rechten Kniegelenk„ gekommen. Die Klägerin habe sich am 28. November 1974 bei Frau Dr. A. in K. in ärztliche Behandlung begeben.
Dieser Vorfall wurde der Beklagten im März 2001 angezeigt, nachdem sich die Klägerin im Juni 1999 wegen eines Innenmeniskusrisses im rechten Knie in stationäre Krankenhausbehandlung hatte begeben müssen. Bemühungen, Unterlagen über die ärztliche Versorgung der Klägerin nach dem Unfall zu ermitteln, blieben erfolglos. Mit Bescheid vom 22. Januar 2003 lehnte es die Beklagte ab, das Ereignis vom 25. November 1974 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Zur Begründung führte sie aus, medizinische Unterlagen zu diesem Ereignis hätten nicht ermittelt werden können. Auch die Prüfung, ob der Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem diagnostizierten Körperschaden über so genannte Brückensymptome wahrscheinlich gemacht werden könne, sei erfolglos geblieben. Unterlagen, die für die Jahre 1974 bis 1985 auf Beschwerden oder Behandlungen der Klägerin am rechten Kniegelenk hinweisen würden, hätten nicht ermittelt werden können. Die anspruchsbegründenden Tatsachen hätten somit nicht bewiesen werden können. Dagegen legte die Klägerin am 20. Februar 2003 Widerspruch ein und reichte eine schriftliche Aussage des zum Unfallzeitpunkt in der Turnhalle anwesenden Sportlehrers D. K. vom 01. April 2003 zu den Akten der Beklagten. Dieser teilte mit, er habe die Klägerin zwei Tage nach dem Unfall zu deren Hausärztin Dr. A. gefahren. Diese habe der Klägerin einen Zinkleimverband am rechten Knie angelegt und ihm als Diagnose einen Kreuzbandriss im rechten Knie mitgeteilt. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2003wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Ein Köperschaden der Klägerin am rechten Knie anlässlich des Ereignisses habe trotz umfangreicher Ermittlungen nicht im Sinne eines Vollbeweises nachgewiesen werden können. Dies gehe zu Lasten der Klägerin.
Die Klägerin hat am 15. Januar 2004 Klage beim Sozialgericht Stendal erhoben. Mit Beweisanordnung vom 21. September 2005 hat das Gericht den Facharzt für Orthopädie Dr. S. mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 29. Oktober 2005 zu dem Ergebnis gekommen, es sei wahrscheinlich, dass die Klägerin am 25. November 1974 eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes des rechten Kniegelenkes erlitten habe. Gehe man davon aus, so seien die gesundheitlichen Problem der Klägerin im rechten Knie ab dem Jahre 1998 Folge dieses Ereignisses.
Das Sozialgericht hat am 10. April 2006 eine öffentliche Sitzung durchgeführt. Nach einer Unterbrechung der mündlichen Verhandlung für 10 Minuten ist im Terminsprotokoll Folgendes ausgeführt: “Das Gericht hält eine weitere Anfrage beim A. S. hinsichtlich der gestellten Diagnose aus dem Jahr 1974 sowie die Zeugenvernehmung von Herrn K. für erforderlich„. Anschließend hat es den Rechtsstreit vertagt. Auf entsprechende Anfrage hat der A. S. mitgeteilt, dass im Kreisarchiv trotz intensivster Nachforschungen keine Behandlungsunterlagen gefunden werden konnten. Sodann hat das Sozialgericht den Beteiligten mit Schreiben vom 10. Mai 2006 mitgeteilt, es beabsichtige, den Rechtsstreit gemäß § 105 Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Hinweise zum Sach- und Streitstand enthält das Schreiben nicht. Mit Schriftsatz vom 15. Mai 2006 haben die Prozess...