Entscheidungsstichwort (Thema)
ehemalige DDR. Übergangsrecht. Berufskrankheit. keine Listenkrankheit. Sonderentscheidverfahren
Orientierungssatz
1. Zur Anerkennung einer Darmkrebserkrankung eines Chemiefacharbeiters in der ehemaligen DDR, der während seiner beruflichen Tätigkeit einer Butadienexposition ausgesetzt war, als (nicht "gelistete") Berufskrankheit gem § 1150 Abs 2 RVO iVm § 2 BKVMBV.
2. Das Verfahren für eine Anerkennung einer nicht "gelisteten" Berufskrankheit im "Sonderentscheidverfahren" sah in § 6 Abs 2 Berufskrankheitenverordnung DDR die Anerkennung auf Vorschlag der Obergutachterkommission für Berufskrankheiten beim Zentralinstitut für Arbeitsmedizin der DDR vor. Dieser Obergutachterkommission waren hinsichtlich der an die haftungsausfüllenden Kausalität zu stellenden Anforderungen keine rechtlichen Vorgaben gemacht. Die Obergutachterkommission entwickelte vielmehr selbst Kriterien und Hinweise für die Anerkennung von Berufskrankheiten. Letztlich konnte die Obergutachterkommission auf der Basis der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und unter Beachtung der von ihr selbst aufgrund Erfahrungen und wissenschaftlichen Untersuchungen entwickelten Kriterien eine Einzelfallentscheidung treffen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der ... 1996 verstorbenen Ehemann der Klägerin an einer berufsbedingten Krebserkrankung erkrankt war und der Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin deshalb Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zustehen. Ob die Klägerin auch Anspruch auf Hinterbliebenenrente hat, ist nicht mehr Gegenstand dieses Verfahrens.
Der ... 1940 geborene Ehemann der Klägerin (der Versicherte) war Chemiefacharbeiter. Ab Mai 1964 arbeitete er mit einer Unterbrechung von circa einem Jahr bei dem V C W B, der späteren B AG, in der Butadienfabrikation. Dort war er zunächst als Ofenfahrer, dann als Kontakträumer, Anlagenfahrer und zuletzt als Energiekontrolleur eingesetzt.
Ab dem 2. April 1991 war der Versicherte arbeitsunfähig; bei ihm wurde im Bezirkskrankenhaus H ein Mastdarmkrebs festgestellt. Am 17. April 1991 erfolgte ein operativer Eingriff, durch den eine bösartige Neubildung im Mastdarm operativ entfernt wurde. Am 3. Mai 1991 wurde der Versicherte zunächst aus der stationären Behandlung des Bezirkskrankenhauses H zur ambulanten Weiterbehandlung entlassen. In der Folgezeit musste sich der Versicherte in mehren Intervallen chemotherapeutischen Behandlungen unterziehen und konnte keine Berufstätigkeit mehr ausüben. Am 24. September 1991
stellte der Versicherte bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte einen Rentenantrag, der zur rückwirkenden Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab dem 1. Januar 1992 führte.
Im Oktober 1991 ging bei der Berufsgenossenschaft für chemische Industrie eine Berufskrankheitsanzeige des werksärztlichen Dienstes der B AG ein, in der mitgeteilt wurde, dass die Krebserkrankung des Versicherten möglicherweise auf eine Butadienexposition zurückzuführen sei. Die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie leitete den Vorgang zuständigkeitshalber an die Beklagte weiter, weil Leistungen wegen eines vermeintlichen Versicherungsfalls im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992 geltend gemacht wurden. Nach einer von der B AG erstellten Einschätzung der Arbeitsplatzumweltbedingungen des Versicherten für die Zeit von 1964 bis 1991 hatte dieser mit den Stoffen Acrylnitril, Vinylchlorid, Styren, Toluen, Ammoniak und Quecksilber Kontakt. Ausweislich nur noch für einzelne Teile des Betriebes vorliegender Messprotokolle über arbeitsplatzbezogene Messungen waren die Grenzwerte für Styren eingehalten. Bei Acrylnitril, Vinylchlorid und Butadien lag eine Überschreitung der Grenzwerte vor. Für die hauptsächlich vom Kläger ausgeübte Berufstätigkeit als Kontakträumer liegen keine Messergebnisse vor. Diese Tätigkeit umfasste Reinigungs- und Aufräumarbeiten; dabei war es unter anderem erforderlich, in die Karbidöfen hineinzusteigen.
Die Beklagte veranlasste die Erstellung eines Gutachtens des Arbeitsmediziners Prof. Dr. B zu der Frage, ob zwischen den ermittelten Expositionen des Versicherten und seiner Erkrankung ein Zusammenhang in Betracht komme. In einem Gutachten vom 18. März 1992 führte der Sachverständige nach Auswertung der vorhandenen Messprotokolle zur Arbeitsplatzbelastung aus: Es sei zu unterstellen, dass bei dem Versicherten mindestens für den Zeitraum von 1964 bis 1973 eine hohe Exposition gegen 1,3-Butadien und 2-Butenal vorgelegen habe. Danach sei er bis 1980 gegen geringere Konzentrationen exponiert gewesen, aber es sei eine weitere Belastung mit Acrylnitril und Vinylchlorid hinzugekommen. Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand der Medizin sei bei einer überschreitung des Grenzwertes durch Acrylnitril in Tierversuchen ein erhöhtes Auftreten bösartiger Neubildungen festgestellt worden. Die Auswertungen von Erkrankungsfällen exponierter Arbeitnehmer hätten jedoch widersprüchliche Ergebnisse erbracht, wobei die erhöhten Erkrankungs- u...