Rz. 12
Dem Anspruch auf Entgeltfortzahlung kann der Einwand rechtsmissbräuchlichen Verhaltens (§ 242 BGB) entgegenstehen. Für die Prüfung bleibt jedoch dann kein Raum mehr, wenn der Anspruch bereits aufgrund eines Verschuldens des Arbeitnehmers ausgeschlossen ist: Die unverschuldete Arbeitsunfähigkeit ist Tatbestandsmerkmal der Entgeltfortzahlung. Ist ein Verschulden des Arbeitnehmers im Einzelfall verneint worden, kann mit denselben Tatumständen kein Rechtsmissbrauch mehr begründet werden. Denn der Gesetzgeber hat mit der Verschuldensregel die Verteilung des wirtschaftlichen Risikos im Krankheitsfall abschließend geregelt. Der Einwand des Rechtsmissbrauchs hat im Rahmen des § 3 EFZG daher kaum praktische Bedeutung.
Rz. 13
Ein Rechtsmissbrauch kann ausnahmsweise vorliegen, wenn der Arbeitnehmer in Kenntnis seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit den Abschluss des Arbeitsvertrags erschlichen hat. Rechtsmissbrauch ist etwa bejaht worden, wenn der Arbeitnehmer bei Abschluss eines zweckgebundenen, befristeten Arbeitsverhältnisses den Arbeitgeber nicht über ein bevorstehendes bereits bewilligtes Heilverfahren informiert hat. Der Einwand des Rechtsmissbrauchs ist in solchen Fällen das mildere Mittel gegenüber einer Anfechtung des Arbeitsvertrags.
Rz. 14
Auch ein Verhalten während des bestehenden Arbeitsverhältnisses kann den Einwand des Rechtsmissbrauchs begründen. So, wenn der Arbeitnehmer die Zeit seiner Erkrankung zur Begehung strafbarer oder anderer sittlich oder rechtlich zweifelsfrei zu missbilligender Handlungen genutzt hat. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat Rechtsmissbrauch auch in einem Fall bejaht, in dem der Arbeitnehmer wegen schwerer Vertragsverletzung hätte fristlos gekündigt werden können und der Arbeitgeber nur aus Rücksichtnahme auf die Erkrankung die Kündigung unterließ. Ob diese Entscheidung heute noch bestätigt würde, ist zweifelhaft. Denn der Arbeitgeber kann entscheiden, ob er eine Kündigung ausspricht oder das Arbeitsverhältnis fortsetzt. Im letzteren Fall handelt der Arbeitnehmer nicht rechtsmissbräuchlich, wenn er sich auf alle Rechte aus dem fortbestehenden Arbeitsverhältnis beruft.
Rz. 15
Schließlich kann der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung verwirken, wenn der Arbeitgeber nach erheblichem Zeitablauf – Zeitmoment – und aufgrund der Verhaltensweise des Arbeitnehmers – Umstandsmoment – mit einer Inanspruchnahme nicht mehr rechnen musste.
Arbeitnehmer A ist wiederholt wegen einer Allergie arbeitsunfähig erkrankt. Nach insgesamt 42 Tagen Entgeltfortzahlung verweigert der Arbeitgeber weitere Zahlungen unter Hinweis auf den Fortsetzungszusammenhang. A weist ihn jedoch darauf hin, dass er im November für insgesamt 5 Arbeitstage aufgrund einer Erkältung ausgefallen ist, die in keinem Zusammenhang zu den Allergieerkrankungen steht. Die AU-Bescheinigung sei vom behandelnden Arzt fehlerhaft ausgefüllt worden. Der Arbeitgeber bittet um eine entsprechende ärztliche Bestätigung; nach deren Vorlage sei er bereit, Entgeltfortzahlung für die 5 Tage zu leisten. A meldet sich daraufhin nicht mehr. Als er weitere 3 Mal arbeitsunfähig erkrankt, leistet der Arbeitgeber keine Entgeltfortzahlung. A wehrt sich dagegen nicht. 1 ½ Jahre später scheidet A aus dem Arbeitsverhältnis aus. Er macht nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Nachzahlung der Entgeltfortzahlung für die 5 streitigen Tage geltend. Hier kann der Arbeitgeber sich auf den Einwand der Verwirkung berufen. Es ist nicht nur ein langer Zeitraum seit der Fälligkeit des Anspruchs vergangen. Aufgrund der Korrespondenz und der fehlenden Reaktion auf die Bitte des Arbeitgebers, eine neue Bescheinigung oder ärztliche Bestätigung vorzulegen, ist auch das Umstandsmoment gegeben, denn der Arbeitnehmer hat nicht mehr reagiert. Er hat vielmehr bei folgenden Krankheitszeiten den Ausschluss der Entgeltfortzahlung stillschweigend akzeptiert. Hier konnte der Arbeitgeber berechtigterweise davon ausgehen, dass er für die 5 Tage nicht mehr in Anspruch genommen wird.