FinMin Nordrhein-Westfalen, Erlaß v. 30.4.2012, S 0130 - § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO Karte 803
I. Schutzbereich des § 30 AO
1. Sachlicher Schutzbereich
Durch § 30 AO werden nicht nur Geheimnisse im engeren Sinne, sondern alle „Verhältnisse” des Beteiligten geschützt, d.h. grundsätzlich alles, was im Besteuerungsverfahren bekanntgeworden ist. Dabei macht es keinen Unterschied, ob diese Tatsachen für die Besteuerung relevant sind oder nicht. Das Steuergeheimnis erstreckt sich demnach auf die gesamten persönlichen, wirtschaftlichen, rechtlichen, öffentlichen und privaten Verhältnissen einer natürlichen oder juristischen Person.
Zu den „Verhältnissen” zählen auch das Verwaltungsverfahren selbst, die Art der Beteiligung am Verwaltungsverfahren und die Maßnahmen, die vom Beteiligten getroffen wurden. So unterliegt es z.B. schon dem Steuergeheimnis, ob und bei welcher Finanzbehörde ein Beteiligter steuerlich geführt wird, ob ein Steuerfahndungsverfahren oder eine Außenprüfung stattgefunden hat. Geschützt ist auch die Information darüber, wer für einen Beteiligten im Verfahren aufgetreten ist, welche Anträge gestellt worden sind und in welcher Form das Verfahren von dem Beteiligten betrieben worden ist.
2. Persönlicher Schutzbereich
Geschützt sind „die Verhältnisse eines anderen”, also eines jeden, der nicht Amtsträger ist oder einem solchen gemäß § 30 Abs. 3 AO gleichsteht. Folglich erstreckt sich das Steuergeheimnis nicht nur auf die Verhältnisse des Steuerpflichtigen (§ 33 Abs. 1 AO), sondern auch auf die Verhältnisse Dritter. Dritte können dabei die in § 33 Abs. 2 AO genannten, aber auch alle möglichen weiteren Personen sein. Geschützt werden demnach auch auskunftspflichtige Dritte sowie Gewährspersonen, die den Finanzbehörden Angaben über steuerliche Verhältnisse anderer machen.
II. Offenbarungsbefugnis
Mitteilungen und Auskünfte an die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte zur Verfolgung von nichtsteuerlichen Straftaten sind nur unter den Voraussetzungen des § 30 Absätze 4 und 5 AO zulässig. Die in §§ 96 und 161 StPO begründeten Auskunftsansprüche der Strafverfolgungsbehörden treten gegenüber der Verpflichtung zur Wahrung des Steuergeheimnisses zurück. Das gilt auch bei Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaft nach Eröffnung von Insolvenzverfahren (z.B. über rückständige Steuerzahlungen des Gemeinschuldners, über durchgeführte Außenprüfungen oder über beabsichtigte Steuerstrafverfahren). Bei entsprechenden Auskunftsersuchen der Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte ist daher in jedem Fall zu prüfen, ob das Finanzamt zur Offenbarung der Kenntnisse, auf die sich das Ersuchen bezieht, befugt ist.
Ist eine Offenbarung dem Grunde nach zulässig, so hat dies nicht zur Folge, dass sämtliche Erkenntnisse, die im Besteuerungsverfahren gewonnen wurden, bekanntgegeben werden dürfen. Nach dem Einleitungssatz zu § 30 Abs. 4 AO ist die Offenbarung nur zulässig, „soweit” sie zur Erfüllung des Offenbarungszweckes dient. Mit dieser Formulierung wird der Tatsache Rechnung getragen, dass bei jeder Auskunftserteilung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel gilt. Es ist daher jeweils zu prüfen, ob und inwieweit die vorgesehene Offenbarung in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem Zweck steht.
Ist eine Befugnis zur Offenbarung gegeben und besteht gleichzeitig nach § 161 StPO eine Verpflichtung zur Auskunft, muss das Finanzamt die Auskunft erteilen.
Eine Offenbarung kann nach folgenden Bestimmungen in Betracht kommen:
1. Offenbarung nach § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO
Nach § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO ist die Offenbarung zulässig, wenn sie der Durchführung eines Verfahrens in Steuersachen oder eines Strafverfahrens/Bußgeldverfahrens wegen einer Steuerstraftat bzw. Steuerordnungswidrigkeit dient.
In Straf- oder Bußgeldverfahren wegen einer Steuerstraftat bzw. -ordnungswidrigkeit besteht eine Offenbarungsbefugnis auch bezüglich jener allgemeinen Straftaten, die mit der Steuerstraftat untrennbar verknüpft sind und folglich mit ihr einen einheitlichen Lebensvorgang darstellen (sog. prozessualer Tatbegriff; dieser umfasst insbesondere die Fälle der Tateinheit gemäß § 52 StGB; hierzu Müller, Steuergeheimnis und Verwertungsverbot bei nichtsteuerlichen Straftaten, in: DStR 1986 S. 699). Andernfalls kann eine Mitteilung an die Staatsanwaltschaft zur Durchführung eines einheitlichen Ermittlungsverfahrens nur unter den Voraussetzungen des § 30 Abs. 4 Nr. 4 oder Nr. 5 oder Abs. 5 AO erfolgen.
Sind etwa unrichtige oder unvollständige Angaben in einer beim Finanzamt (§ 95 AO oder § 284 AO) oder auf Betreiben des Finanzamts vor dem Amtsgericht abgegebenen eidesstattlichen Versicherung gemacht worden, so wird regelmäßig neben einer falschen Versicherung an Eides Statt gemäß § 156 StGB gleichzeitig auch eine (versuchte) Steuerhinterziehung vorliegen. In diesen Fällen ist dem zuständigen Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung zur weiteren Veranlassung Mitteilung zu machen. Die Abgabe der Strafsache an die Staatsanwaltschaft ist unter dem Gesichtspunkt des § 3...