Rz. 97

Von Gesetzes wegen haben die Kinder bei einer gesetzlichen Verteilung sogenannte Willensrechte. Die Willensrechte wurden aufgenommen, um vorzubeugen, dass Güter des eigenen Elternteils über die gesetzliche Verteilung zum Stiefelternteil verschwinden. Ist der überlebende Elternteil wiederverheiratet, ist ebenfalls die gesetzliche Verteilung anzuwenden. Wenn der überlebende Elternteil dann verstirbt, hat der Stiefelternteil das umfassende Eigentumsrecht an den Nachlassgütern und die Kinder erhalten wieder eine nicht aufforderbare Geldforderung (jetzt gegenüber dem Stiefelternteil) als Folge des Versterbens des Elternteils. Zwar können sie in diesem Fall ihre Geldforderung als Folge des Versterbens des ersten Elternteils einfordern, jedoch besteht dieser nur in einer Geldforderung, nicht in einem Anspruch auf Übertragung der Güter.

 

Rz. 98

Gesetzlich ist vorgesehen, dass die Kinder in bestimmten Situationen einen Anspruch auf die Übertragung von Gütern haben, mit oder ohne Vorbehalt eines Nießbrauchs. Die Kinder können die Willensrechte in vier Situationen ausüben (Art. 4:19, 4:20, 4:21 und 4:22 BW):

Hat der überlebende Elternteil seine Absicht, mit einem neuen Partner die Ehe eingehen zu wollen, angezeigt, ist er verpflichtet, auf Antrag des Kindes die Güter dem Kind zu übertragen, unter dem Vorbehalt des Nießbrauchs zugunsten des überlebenden Elternteils (es sei denn, dass der Elternteil auf den Nießbrauch verzichtet), mit einem Höchstwert der Geldforderung (Art. 4:19 BW). Ein praktisches Problem besteht darin, dass die Anzeige beim Standesamt nicht öffentlich ist. Auch kann der überlebende Ehegatte sich heimlich wiederverheiraten, ohne dass die Kinder davon erfahren.
Hat das Kind durch das Versterben des überlebenden Elternteils eine Geldforderung auf seinen Stiefelternteil bekommen, ist der Stiefelternteil verpflichtet, auf Antrag des Kindes Güter an das Kind zu übertragen unter dem Vorbehalt des Nießbrauchs zugunsten des überlebenden Elternteils (es sei denn, dass der Elternteil auf den Nießbrauch verzichtet) mit einem Höchstwert der Geldforderung (Art. 4:21 BW).
Verstirbt der überlebende Elternteil nach Wiederverheiratung, ist der Stiefelternteil verpflichtet, auf Antrag des Kindes Güter auf dieses zu übertragen mit einem Höchstwert der Geldforderung des Kindes auf den überlebenden Elternteil als Folge des Versterbens des ersten Elternteils (Art. 4:20 BW).
Hat das Kind eine Forderung gegen seinen Stiefelternteil wegen des Versterbens seines eigenen Elternteils bekommen, dann sind die Erben des Stiefelternteils verpflichtet, auf Antrag des Kindes die Güter an das Kind zu übertragen, um dessen Forderung zu erfüllen (Art. 4:22 BW).
 

Rz. 99

Mittels Testaments können die Willensrechte aufgehoben, eingeschränkt oder erweitert werden.

 

Rz. 100

Die Kinder können ihre Willensrechte bezüglich der Güter aus dem Nachlass oder der Gütergemeinschaft ihres verstorbenen Elternteils geltend machen, die mit dem Forderungsrecht verbunden sind.

 

Rz. 101

Das Gericht (Kantongerecht) wird hier zu entscheiden haben, ob der Nießbrauch auch die Verzehrbefugnis umfasst, und nähere Regelungen treffen (Art. 4:23 Abs. 2 und 4 BW), wenn es zu Streitigkeiten zwischen dem Stiefelternteil und den Kindern kommt.

 

Rz. 102

Der Stiefelternteil kann dem Kind eine angemessene Frist setzen, innerhalb derer die Befugnis zum Willensrecht ausgeübt wird (Art. 4:25 Abs. 3 BW). Wird das Willensrecht nicht fristgerecht ausgeübt, verfällt es. Bei Minderjährigen hat der gesetzliche Vertreter innerhalb von drei Monaten nach Entstehen des Willensrechts dem Richter (Kantonrechter) schriftlich eine Mitteilung vorzulegen, ob er das Willensrecht ausüben will. Der Kantonrichter kann das Vorhaben genehmigen oder abweisen. Dabei ist nicht nur das Interesse des Kindes ausschlaggebend (Art. 4:26 Abs. 1 BW). Auch die Interessen der anderen Kinder, die eine solche Befugnis haben, und die Interessen derjenigen, gegenüber denen die Befugnis besteht, werden in die Erwägung einbezogen.

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