Entscheidungsstichwort (Thema)
Prüfungsmaßstab für Reststrafenaussetzung trotz neuer Straftat
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der für die Aussetzung der Vollstreckung des Rests einer zeitigen Freiheitsstrafe nach § 57 I 1 Nr. 2 StGB gebotenen Gesamtabwägung, ob die Aussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, sind mit Blick auf die Prognose eines zukünftigen straflosen Lebenswandels an den Wahrscheinlichkeitsgrad der in § 57 I 2 StGB genannten Umstände je nach Schwere der Straftaten unterschiedliche Anforderungen zu stellen (u.a. Anschluss an BGH, Beschl. v. 25.04.2003 - 1 AR 266/03 = NStZ-RR 2003, 200 = StraFo 2003, 255 = BGHR StGB § 57 I Erprobung 2 = StV 2003, 678 = ZfStrVo 2003, 379).
2. Zwar wird bei einem erstmals beanstandungsfrei eine Freiheitstrafe verbüßenden Verurteilten regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Strafe ihre spezialpräventiven Wirkungen entfaltet hat und es verantwortbar ist, die Vollstreckung eines Strafrest zur Bewährung auszusetzen. Jedoch können auch dann der Annahme einer günstigen Verantwortbarkeitsprognose aufgrund des Sicherheitsinteresses besondere negative Umstände entgegenstehen. Erprobungsrisiken können sich auch aus einer dem Verurteilten bislang lediglich vorgeworfenen, noch nicht rechtskräftig abgeurteilten neuen Straftat oder aus seiner Persönlichkeit ergeben, wobei im Unterschied zur sog. Nachtragsentscheidung nach § 56f StGB verbleibende Zweifel hinsichtlich einer günstigen Prognose einer positiven Aussetzungsentscheidung entgegen stehen (u.a. Anschluss an OLG Hamm, Beschl. v. 20.02.1998 - 2 Ws 84/98 = NStZ 1998, 376 = StV 1998, 501 = StraFo 1998, 174 und v. 13.12.2004 - 3 Ws 314/04 = NStZ-RR 2005, 154).
Normenkette
EMRK Art. 6 Abs. 2; StGB §§ 56f, 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; StPO § 306 Abs. 1, § 311 Abs. 2, § 454 Abs. 3 S. 2
Tatbestand
Das AG verhängte gegen den Verurteilten am 18.02.2013 u.a. wegen vorsätzlichen Besitzes in Tateinheit mit vorsätzlichem Führen einer verbotenen Waffe sowie unerlaubten BtM-Besitzes eine Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren 3 Monaten. Infolge Berufungsrücknahme in der Berufungshauptverhandlung nach Beweisaufnahme ist das Urteil seit dem 06.06.2014 rechtskräftig. 2/3 der Strafe waren am 23.01.2016 vollstreckt; das Strafende ist für Ende Oktober 2016 vorgemerkt. Unter dem 03.12.2015 erhob die StA wiederum Anklage gegen den Verurteilten, mit welcher sie ihm eine im Februar 2015 in der JVA an einem Mitgefangenen begangene Körperverletzung zur Last legt. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 26.01.2016 hat die StVK die Vollstreckung des Strafrests aus dem Urteil vom 18.02.2013 nach Verbüßung von 2/3 zur Bewährung ausgesetzt. Die hiergegen seitens der StA eingelegte sofortige Beschwerde erwies sich als erfolgreich.
Entscheidungsgründe
1. Die mit dem Ziel der Versagung der Reststrafenaussetzung eingelegte sofortige Beschwerde der StA ist statthaft (§ 454 III 1 StPO) und auch im Übrigen zulässig, da form- und fristgerecht eingelegt (§§ 306 I, 311 II StPO). Die sofortige Beschwerde der StA hat schon kraft Gesetzes (§ 454 III 2 StPO) aufschiebende Wirkung, so dass die Regelung im angefochtenen Beschluss, die die Wirksamkeit der gewährten Strafaussetzung von der Rechtskraft der Entscheidung abhängig macht, lediglich klarstellenden Charakter hat (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 59. Aufl. § 454 Rn. 49).
2. Die sofortige Beschwerde der StA hat auch in der Sache Erfolg.
a) Reststrafenbewährung nach § 57 I 1 Nr. 2 StGB darf nur dann bewilligt werden, wenn dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Beim Verurteilten muss also im Fall einer vorzeitigen Haftentlassung eine realistische Aussicht auf künftige straffreie Lebensführung bestehen. Eine positive Entscheidung setzt dabei keine Gewissheit künftiger Straffreiheit voraus; es genügt das Bestehen einer naheliegenden Chance für ein positives Ergebnis. "Bei der Entscheidung" sind nach § 57 I 2 StGB namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten des Verurteilten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind. Welchem dieser Umstände im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung dabei welches inhaltliche Gewicht beizumessen ist, bestimmt sich nach dem Einzelfall. Je nach Schwere der Straftaten sind im Hinblick auf das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Wahrscheinlichkeit für ein künftiges strafloses Leben des Verurteilten zu stellen (vgl. BGH, Beschl. v. 25.04.2003 - 1 AR 266/03 = NStZ-RR 2003, 200 = StraFo 2003, 255 = BGHR StGB § 57 I Erprobung 2 = StV 2003, 678 = ZfStrVo 2003, 379). Verbüßt der Verurteilte - wie hier - erstmals eine Freiheitsstrafe und gibt seine Führung während des Vollzugs keinen Anlass zu gewichtigen Beanstandungen, so kann im Regelfall davon ausgegangen werde...