Leitsatz (amtlich)
1. Stürzt eine in einer Tagespflegeeinrichtung betreute Seniorin aus nicht geklärter Ursache während eines Spaziergangs außerhalb der Einrichtung, bei dem sie durch eine Mitarbeiterin der Tagespflegeeinrichtung begleitet wird, hat sich kein voll beherrschbares Behandlungsrisiko im Sinne des § 630h Abs. 1 BGB verwirklicht. Ein Spaziergang generiert, auch wenn er in Begleitung einer Pflegekraft erfolgt, keine spezifischen, durch den Pflegebetrieb gesetzten Risiken, die durch eine ordnungsgemäße Gestaltung ausgeschlossen werden können und daher auch müssen.
2. Für ein begleitendes Spazierengehen, das offenkundig (§ 291 ZPO) von jeder gesunden erwachsenen Person (hier eine Praktikantin) mit einem durchschnittlichen Maß von Verantwortungsgefühl ausgeübt werden kann, ist keine besondere Qualifikation erforderlich, deren Fehlen die Beweiserleichterung nach § 630h Abs. 4 BGB begründen könnte.
Normenkette
BGB § 630h Abs. 1, 4
Verfahrensgang
LG Bamberg (Urteil vom 17.08.2022; Aktenzeichen 23 O 215/20 Hei) |
Tenor
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Bamberg vom 17.08.2022, Az. 23 O 215/20 Hei, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen und den Berufungsstreitwert auf 33.766,80 EUR festzusetzen.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis 10.03.2023.
Gründe
I. Die Klägerin verlangt von der Beklagten als Erbin ihrer am xx.xx.2019 verstorbenen Mutter A. (nachfolgend nur: Geschädigte) materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen eines Sturzes der Geschädigten, der sich am 21.01.2019 gegen 13.15 Uhr ereignete.
Zu diesem Zeitpunkt wurde die Geschädigte in der Tagespflegeeinrichtung im B. Seniorenzentrum ... in ... betreut. Die Beklagte ist die Trägerin dieser Einrichtung. Während eines Spaziergangs, bei dem die Geschädigte und eine weitere Seniorin von der in der Tagespflegeeinrichtung beschäftigten Praktikantin C. begleitet wurde, stürzte die Geschädigte und zog sich hierbei einen Oberschenkelhalsbruch zu. Es folgten eine operative Versorgung und ein stationärer Krankenhausaufenthalt bis 04.02.2019.
Die Klägerin ist der Auffassung, dass der Spaziergang wegen der an diesem Tag herrschenden Glätte und des körperlichen Zustands der Geschädigten nicht hätte durchgeführt werden dürfen. Zudem sei die Praktikantin C. nicht ausreichend qualifiziert gewesen und hätte zudem mit der Geschädigten nur untergehakt laufen dürfen, was aber nicht geschehen sei. Der auf die am Unfallort bestehende Eisglätte zurückzuführende Sturz sei damit auf ein der Beklagten zuzurechnendes Pflege- bzw. Organisationsverschulden zurückzuführen. Die Klägerin begehrt Schmerzensgeld (mindestens 25.000,- EUR), den Ersatz von materiellen Schäden (nicht von der Versicherung der Geschädigten übernommene Krankenhaus- und Pflegekosten) in Höhe von 8.766,80 EUR, sowie die Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.
Die Beklagte hat die Vorwürfe der Klägerin zurückgewiesen. Eine Sorgfaltspflichtverletzung der zuverlässigen Praktikantin C., die zuvor auch ausreichend angeleitet und eingewiesen worden sei, und die kausal zum Sturz geführt hätte, liege nicht vor. Auch sei der Sturz weder vorherzusehen, noch auf Glätte zurückzuführen gewesen.
Das Landgericht hat zur Frage der Witterungsverhältnisse am Unfalltag und zum Sturzgeschehen Beweis erhoben durch die Einvernahme von Zeugen und die Einholung eines meteorologischen Sachverständigengutachtens. Mit Endurteil vom 17.08.2022 hat es die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass ein glättebedingtes Ausrutschen bzw. ein glättebedingter Sturz der Geschädigten nicht nachweisbar sei. Ferner sei die Praktikantin C. auch nicht grundsätzlich ungeeignet gewesen, den Spaziergang durchzuführen; ein fehlerhaftes Verhalten bei der Begleitung der Geschädigten sei nicht nachgewiesen. Auch hätten weder das Wetter, noch die Konstitution der Geschädigten gegen einen Spaziergang gesprochen.
Gegen das Endurteil des Landgerichts hat die Klägerin form- und fristgerecht Berufung eingelegt und begründet. Mit der Berufung verfolgt sie ihre erstinstanzlichen Anträge weiter. Angegriffen wird die Feststellung des Landgerichts, wonach ein glättebedingtes Ausrutschen der Geschädigten nicht nachgewiesen sei. So habe das Landgericht nicht berücksichtigt, dass die Praktikantin C. selbst erklärt habe, dass am Unfalltag gestreut worden sei, was eine Glättebildung und damit risikobehaftete Wetterbedingungen voraussetze. Nicht ausreichend berücksichtigt habe das Gericht auch entsprechende Aussagen der beiden Zeugen D., die ebenfalls entsprechende Witterungsverhältnisse bestätigten. Soweit sich das Gericht bei seiner Beurteilung der Witterungsverhältnisse auf das Gutachten des meteorologischen Sachverständigen stütze, lasse es außer Acht, dass auch nach den Ausführungen der Beklagtenseite das von der Unfallstelle gefertigte Lichtbild (Anlage K3) spätestens am 29.01.2019 gefertigt worden sei, was aber vom Sachverständigen, dem das Gericht gefolgt ist, in Abrede gestellt w...