Entscheidungsstichwort (Thema)

Prognoseentscheidung hinsichtlich einer fortbestehenden Kindeswohlgefährdung nach wahrscheinlichem Schütteltrauma

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wurden einem Kind durch einen Elternteil mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere gesundheitliche Schäden (hier in Gestalt eines sog. Schütteltraumas) zugefügt, so ist im Einzelfall zu prüfen, ob prognostisch erneut mit ähnlich schwerwiegenden Schäden zu rechnen ist. Selbst schwere Verletzungen müssen einer Rückführung nicht generell entgegenstehen, wenn eine hohe Prognosesicherheit dahingehend besteht, dass es nicht erneut zu derartigen Schäden kommt.

2. Wiegt der drohende Schaden für das Kindeswohl weniger schwer, so steigen für die Rechtfertigung einer Fortsetzung der Trennung des Kindes von seinen Eltern die an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellenden Anforderungen.

3. Für die Prognoseentscheidung ist auch von Bedeutung, ob das verbleibende Gefährdungsrisiko durch die äußeren Lebensbedingungen von Eltern und Kind - etwa in einer geeigneten Einrichtung - weiter minimiert, wenn nicht gar beseitigt werden kann. Dabei spielt auch die Bereitschaft der Eltern zur eigenen psychotherapeutischen Behandlung sowie zur umfassenden Kooperation im Rahmen stationärer und ambulanter Jugendhilfemaßnahmen eine Rolle.

 

Normenkette

BGB § 1666

 

Verfahrensgang

AG Helmstedt (Aktenzeichen 4 F 60/23)

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde der Kindeseltern wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Helmstedt vom 04.01.2024 aufgehoben. Damit steht die elterliche Sorge für A. K., geb. am TT.MM.2022, wieder vollumfänglich beiden Kindeseltern zu.

II. Den Kindeseltern wird aufgegeben, sich in Abstimmung mit dem Jugendamt mit A. K. in eine Eltern-Kind-Einrichtung zu begeben, dort für eine vom Jugendamt festgelegte Dauer zu verbleiben und im Anschluss daran in Abstimmung mit dem Jugendamt eine ambulante Anschlussmaßnahme in Anspruch zu nehmen.

III. Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren wird abgesehen. Die Beteiligten haben ihre außergerichtlichen Kosten jeweils selbst zu tragen.

IV. Der Wert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000,00 EUR festgesetzt.

V. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Das Verfahren betrifft die elterliche Sorge für die am TT.MM.2022 geborene A. K. Nach ihrer Geburt lebte A. zunächst in der damaligen Wohnung ihrer beiden Eltern. Die Eltern hatten keine Hebammenbetreuung, aber Unterstützung durch die beiden Großmütter.

[...]

Ausweislich der Krankhausunterlagen stellten die Eltern A. am 16.11.2022 in der Kinderklinik ./. vor, nachdem diese bereits am Vortag auffällig geschrien habe und dann erschlafft sei sowie am 16.11.2022 gegen 14 Uhr begonnen habe, mit einem Arm und einem Bein zu zucken. Im Rahmen eines durchgeführten MRT wurden ein Bluterguss unter der harten Hirnhaut (Subduralhämatom) sowie Flüssigkeitsansammlungen (Hygrome), Verletzungen des Hirngewebes (Hirnparenchymläsionen) und Blutgerinnsel in den kleinen Venen zwischen harter und weicher Hirnhaut (Brückenvenenthrombosen) festgestellt. Daraufhin wurde das Mädchen zur neurochirurgischen Behandlung in die ./. verlegt, wo am 17.11.2022 eine Hygromausräumung erfolgte. Die Eltern hatten keine Erklärung für die festgestellten Befunde. Gegenüber dem Jugendamt gaben sie an, am TT.11.2022 seien sie auf dem Weg zur U3-Untersuchung über eine Bodenwelle gefahren und dabei stark durchgerüttelt worden. A. habe danach in der Kinderarztpraxis heftig erbrochen. Nach dem stationären Aufenthalt in ./. zogen die Eltern gemeinsam mit A. in eine Eltern-Kind-Einrichtung in F., wo sie bis zum 06.03.2023 verblieben.

Mit Schreiben vom 19.01.2023 wandte sich das Jugendamt an das Familiengericht zur weiteren Perspektivklärung nach dem Auslaufen der Eltern-Kind-Maßnahme. In dem beigefügten Bericht des Instituts für Rechtsmedizin der ./. vom 29.12.2022 ist festgehalten, die bei A. festgestellte Befundkonstellation weise auf ein Schütteltrauma hin. Das Fehlen von Augenhintergrundblutungen (Retinablutungen) stehe dem nicht entgegen, da solche nur in 75 bis 90 % der Fälle aufträten. Gerinnungsstörungen und Stoffwechselerkrankungen seien klinischerseits ausgeschlossen worden.

Der Verfahrensbeistand hat sich mit Bericht vom 31.01.2023 für eine Fremdunterbringung des Kindes ausgesprochen, da mit hoher Wahrscheinlichkeit nur die Eltern als Verursacher des Schütteltraumas in Frage kämen. Diese hätten ihm gegenüber angegeben, das Kind nie unbeaufsichtigt Dritten überlassen zu haben.

Mit Beschluss vom 07.02.2023 hat das Amtsgericht den Eltern in dem gesonderten Verfahren zum Az. 4 F 122/23 EASO durch einstweilige Anordnung ohne mündliche Verhandlung vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge sowie das Recht zur Antragstellung nach SGB VIII und zur Regelung von Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten für das Kind A. K. entzogen und auf das Jugendamt als Pfleger übertragen.

Das Jugendamt berichtete mit Schreiben vom 17.02.2023 und 02.03.2023 über den positiven Ve...

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