Entscheidungsstichwort (Thema)
Gehörsverletzung. Entbindungsantrag. Sachaufklärung. Fehlerhafte Begründung der Ablehnung eines Entbindungsantrags
Leitsatz (amtlich)
Die Erwägung, dass die Anwesenheit des Betroffenen, der im Vorfeld der Hauptverhandlung sein Schweigen angekündigt hat, verspreche weitere Sachaufklärung, ist vom Bußgeldgericht zu begründen.
Normenkette
OWiG § 73 Abs. 2, § 74 Abs. 2; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
AG Göttingen (Entscheidung vom 16.02.2023; Aktenzeichen 61 OWi 482 Js 40228/22 (456/22) |
Tenor
1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 16. Februar 2023 wird zugelassen.
2. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 16. Februar 2023 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Göttingen zurückverwiesen.
Gründe
I.
Mit Bußgeldbescheid vom 1. August 2022 verhängte die Stadt Göttingen gegen den Betroffenen eine Geldbuße von 100 € wegen des Vorwurfs, er habe am 15. Juli 2022 um 12:15 Uhr als Führer des PKW Ford, ...-... ...., in vorschriftswidriger Weise ein elektronisches Gerät benutzt, das der Kommunikation, Information oder Organisation dient oder zu dienen bestimmt ist.
Nach rechtzeitigem Einspruch seines Verteidigers gegen den Bußgeldbescheid beraumte das Amtsgericht Göttingen zunächst Termin auf den 20. Dezember 2022 an und ordnete das persönliche Erscheinen des Betroffenen an. Wegen Erkrankung des Verteidigers wurde der Termin auf den 16. Februar 2023 verlegt. Die Beteiligten wurden zu dem neuen Termin geladen. Mit Schriftsatz vom 4. Januar 2023 beantragte der Verteidiger, den Betroffenen von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im Termin zur Hauptverhandlung zu entbinden. Er räume seine Fahrereigenschaft zum vorgeworfenen Zeitpunkt ein, werde ansonsten aber in Person unter keinen Umständen Angaben zur Sache und zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen machen. Zugleich übersandte der Verteidiger eine Vertretungsvollmacht, aus der sich ergibt, dass er bevollmächtigt ist, den Betroffenen in seiner Abwesenheit zu vertreten.
Mit Beschluss vom 16. Januar 2023, dem Verteidiger zugestellt am 23. Januar 2023, entband das Amtsgericht Göttingen nicht von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen im Termin am 16. Februar 2023. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass die Anwesenheit des Betroffenen zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes erforderlich sei. Da die geladenen Zeugen nach Aktenlage vor Ort persönlich im Kontakt mit dem Betroffenen gestanden haben sollten, sei die Anwesenheit des Betroffenen - auch wenn er sich nicht einlassen wolle - zur Sachaufklärung erforderlich.
Nachdem weder der Betroffene noch der Verteidiger zu dem Termin am 16. Februar 2023 erschienen, hat das Amtsgericht Göttingen mit Urteil vom 16. Februar 2023 den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der Stadt Göttingen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen.
Nach Zustellung des Verwerfungsurteils an den Verteidiger am 2. März 2023 hat dieser mit Schreiben vom 2. März 2023, eingegangen beim Amtsgericht Göttingen per beA am selben Tage, die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt und diese zugleich mit der Verletzung des rechtlichen Gehörs sowie mit der Sachrüge begründet.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 16. Februar 2023 gem. § 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 80 Abs. 4 Satz 3 OWiG als unbegründet zu verwerfen.
II.
1.
Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist nach § 80 Abs. 3 und Abs. 2 OWiG i. V. m. § 79 Abs. 1 S. 2 OWiG statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Er hat auch in der Sache - zumindest vorläufig - Erfolg, da dem Betroffenen das rechtliche Gehör versagt worden ist.
Die Verfahrensrüge des Betroffenen, mit der er die Verletzung des § 73 Abs. 2 OWiG und die Gesetzeswidrigkeit der Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG geltend macht, genügt den Anforderungen der §§ 80 Abs. 3 S. 1, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i. V. m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Danach muss bei einer Verfahrensrüge der Tatsachenvortrag so vollständig sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein aufgrund der Begründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, falls das tatsächliche Vorbringen des Betroffenen zutrifft (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 12. März 2009, 4 Ss OWi 173/09, juris, Rn. 5). Zur Erfüllung dieser Voraussetzungen muss der Betroffene darlegen, aus welchen Gründen der Tatrichter von seiner Anwesenheit in der Hauptverhandlung einen Beitrag zur Sachverhaltsaufklärung unter keinen Umständen hätte erwarten dürfen. Hierzu ist erforderlich, den im Bußgeldbescheid erhobenen Tatvorwurf und die konkrete Beweislage im Einzelnen vorzutragen. In diesem Zusammenhang ist in aller Regel auch darzulegen, wann und mit welcher Beg...