Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattungsfähigkeit der notwendigen Auslagen für zwei Wahlverteidiger nach Freispruch

 

Leitsatz (amtlich)

Die Vorschrift des § 91 Abs. 2 S. 2 ZPO, die im Strafverfahren über § 464 a Abs. 2 Nr. 2 StPO zur Anwendung kommt, sieht zwar regelmäßig eine Erstattung von Kosten mehrerer Wahlverteidiger nur insoweit vor, als diese die Kosten eines Wahlverteidigers nicht übersteigen.

Einem Freigesprochenen sind aber dann die notwendigen Auslagen, die er für zwei Wahlverteidiger gezahlt hat, zu ersetzen, wenn seine Verteidigung ausnahmsweise im Hinblick auf Umfang, Schwierigkeit und Komplexität des Strafverfahrens durch nur einen Wahlverteidiger schlechterdings nicht zu bewältigen war.

 

Normenkette

ZPO § 91 Abs. 2 S. 2; StPO § 464a Abs. 2 Nr. 2

 

Verfahrensgang

LG Göttingen (Entscheidung vom 25.10.2018)

 

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Freigesprochenen wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Landgericht Göttingen vom 25.10.2018 teilweise abgeändert.

Die Landeskasse hat dem Freigesprochenen über die mit Beschluss vom 25.10.2018 bereits festgesetzten Kosten hinaus weitere notwendigen Auslagen in Höhe von 81.162,52 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 09.08.2017 zu erstatten.

Im Übrigen wird das Rechtsmittel zurückgewiesen.

2. Die Kosten der sofortigen Beschwerde und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers trägt die Landeskasse.

3. Der Beschwerdewert wird auf 83.539,19 € festgesetzt.

 

Gründe

Die sofortige Beschwerde hat überwiegend Erfolg. Dem Freigesprochene sind weitere 81.162,52 € (insgesamt also 165.983,59 €) nebst Zinsen zu erstatten.

I.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig warf dem Beschwerdeführer mit einer 156 Seiten umfassenden Anklageschrift vom 29.05.2013 die Begehung von 11 Straftaten des versuchten Totschlags gemäß §§ 212, 22, 23 StGB sowie von 3 Straftaten der Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 227 StGB (Behandlung ohne medizinische Indikation) vor. Bereits im Ermittlungsverfahren bestellten sich Rechtsanwalt Dr. H. (am 07.06.2012) und Rechtsanwalt Prof. Dr. S. (am 15.06.2012) als Wahlverteidiger. Beide Rechtsanwälte sind Fachanwälte für Strafrecht. Rechtsanwalt Prof. Dr. S. ist ein in Revisionssachen erfahrener Fachanwalt für Strafrecht mit dem Spezialgebiet Mord- und Totschlagsverfahren. Rechtsanwalt Dr. H. ist nicht nur Fachanwalt für Strafrecht, sondern auch Fachanwalt für Medizinrecht. Er vertrat den Freigesprochenen vor seiner Mandatierung im vorliegenden Verfahren bereits gegenüber seinem Arbeitgeber, der Universitätsmedizin Göttingen, und gegenüber der Bundesärztekammer im berufsrechtlichen Verfahren. Beide Verteidiger arbeiteten im Strafverfahren arbeitsteilig zusammen. Während Dr. H. vorrangig die sog. Indikationsfälle bearbeitete, wandte sich Prof. Dr. S. primär den sog. Manipulationsfällen (Einflussnahme auf das Zuteilungsverfahren) zu.

Das zuständige Landgericht Göttingen sprach den Beschwerdeführer, der sich vom 11.01.2013 bis zum 16.12.2013 in Untersuchungshaft befand, am 06.05.2015 nach 64 Hauptverhandlungstagen frei. Der Bundesgerichtshof verwarf die von der Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen das 1.232 Seiten umfassende Urteil eingelegte und mit der Sachrüge begründete Revision am 28.06.2017 (5 StR 20/16, juris). Die Kosten beider Instanzen und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers wurden gemäß § 467 Abs.1 StPO der Staatskasse auferlegt.

Mit Schriftsatz vom 09.08.2017 hat Rechtsanwalt Prof. Dr. S. namens und in Vollmacht des Beschwerdeführers gemäß §§ 464 b StPO, 104 ZPO beantragt, die notwendigen Auslagen festzusetzen und diese ab Eingang bzw. Rechtskraft mit 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen. Den zu erstattenden Betrag hat er im Antrag auf 163.099,86 € (1. Instanz) sowie auf 5.260,40 € (Revisionsinstanz) beziffert und entsprechende Honoraraufstellungen beigefügt. Darin sind die notwendigen Auslagen für beide Wahlverteidiger enthalten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die erstinstanzlichen Honoraraufstellungen des Rechtsanwalts Prof. Dr. S. über 78.340,56 € (BeH Bl.7 ff.) und des Rechtsanwalts Dr. H. über 84.759,30 € (BeH Bl. 14 ff.) sowie die zweitinstanzlichen Honoraraufstellungen des Rechtsanwalts Prof. Dr. S. über 2.883,73 € (BeH Bl. 22) und des Rechtsanwalts Dr. H. über 2.376,67 € (BeH Bl. 23) verwiesen.

Zwar seien - so Rechtsanwalt Prof. Dr. S. - die Kosten mehrerer Wahlverteidiger im Regelfall nur insoweit zu erstatten, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen. Die Rechtsprechung lasse aber über den Wortlaut des § 91 Abs. 2 S. 3 ZPO (seit 01.07.2014: § 91 Abs. 2 S. 2 ZPO) hinaus Ausnahmen zu. Denn die Vorschrift sei lediglich als Grundsatz zu verstehen. Das Kammergericht habe schon 1994 mit Recht in exzeptionellen Fällen bei zwei Wahlverteidigern nicht nur die Kosten eines Wahlverteidigers, sondern für den zweiten Wahlverteidiger auch die hypothetischen Kosten eines Pflichtverteidigers für ersatzfähig erachtet, wenn die Mitwirkung von zwei Verteidigern aus Gründ...

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