Entscheidungsstichwort (Thema)
Sorgerecht, Gutachtenkosten
Leitsatz (amtlich)
1. Die elterliche Sorge ist ein einheitlicher, unteilbarer Verfahrensgegenstand, unabhängig davon, ob Maßnahmen nach § 1666 BGB oder nach § 1671 BGB zu prüfen sind.
2. Sieht ein Kind sich wiederholt veranlasst, einem Elternteil gegenüber unwahre Angaben zu machen, kann dies ein Anzeichen für die Bedienung einer elterlichen Erwartungshaltung sein; die ungeprüfte Übernahme auch unplausibler Angaben weist auf eine Einschränkung der elterlichen Feinfühligkeit hin.
3. Beruht die Verweigerung des Umgangs mit dem anderen Elternteil durch das Kind auf der Bindungsintoleranz des betreuenden Elternteils, spricht dies zumindest bei Vorliegen weiterer Bedenken gegen dessen Erziehungsfähigkeit für einen Wechsel des Lebensmittelpunktes.
4. Ob die im Verfahren entstandenen Gutachtenkosten außergewöhnlich und überraschend hoch sind, so dass im Rahmen der Ermessensentscheidung des § 81 Abs. 1 FamFG das Absehen von der Kostenerhebung in Betracht kommt, hängt von der Schwierigkeit der Sache und dem erforderlichen Aufwand der Begutachtung ab. Jedenfalls in hochstreitigen Sorgerechtsverfahren mit mehreren Terminen zur Erläuterung des Gutachtens können Gutachterkosten zwischen 10.000 EUR und 20.000 EUR erwartbar sein.
Normenkette
BGB § 1671; FamFG § 81 Abs. 1
Verfahrensgang
AG Braunschweig (Aktenzeichen 247 F 256/19) |
Tenor
Auf die Anschlussbeschwerde des Kindesvaters wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Braunschweig vom 11.11.2020 abgeändert.
Die gemeinsame elterliche Sorge für das Kind J. D. J. C., geb. am 10.08.2014, wird insgesamt aufgehoben und auf den Kindesvater zur alleinigen Ausübung übertragen.
Die Beschwerde der Kindesmutter gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Braunschweig vom 11.11.2020 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden der Kindesmutter auferlegt, wobei Gutachtenkosten für dieses Verfahren nur in Höhe von 15.862,90 EUR erhoben werden.
Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 6.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Eltern des inzwischen sieben Jahre alten J. haben am 23.09.2016 geheiratet, leben seit dem 31.08.2018 getrennt und sind durch das Amtsgericht Braunschweig in dem Scheidungsverfahren zum Aktenzeichen 247 F 221/19 S im Dezember 2021 rechtskräftig geschieden worden; anhängig ist noch die Verbundsache Zugewinnausgleich. J. hat seit der Trennung der Eltern und dem Umzug der Mutter von H. nach B. in deren Haushalt gelebt.
Der Umgang des Kindes mit dem Vater wurde erstmals durch Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 28.05.2019 in dem Verfahren zum Aktenzeichen 247 F 232/18 UG geregelt. Schwierigkeiten bei der Umsetzung führten zu weiteren Verfahren und einer Umgangspause zwischen Oktober 2019 und September 2020; die Gründe hierfür sind zwischen den Eltern streitig.
In einem auf Antrag der Kindesmutter geführten Gewaltschutzverfahren zum Aktenzeichen 247 F 255/19 EAGS wurde durch einstweilige Anordnung des Amtsgerichts Braunschweig vom 14.10.2019 wegen Dringlichkeit ohne mündliche Erörterung gegen den Kindesvater bis zum 13.04.2020 ein Näherungsverbot verhängt. In der mündlichen Verhandlung vom 10.12.2019 haben die Kindeseltern sodann eine Vereinbarung getroffen, nach der Umgang zwischen Vater und Sohn zunächst begleitet wieder angebahnt und Kontakt zur Erziehungsberatungsstelle B. aufgenommen werden sollte.
Daneben wurde aufgrund der seitens der Kindesmutter erhobenen Vorwürfe, wonach der Kindesvater ihr durch Schubsen und Zuschlagen eines Kofferraumdeckels Verletzungen zugefügt habe, seitens des Amtsgerichts das vorliegende Verfahren zum Sorgerecht von Amts wegen eingeleitet. Das Verfahren wurde jedoch zunächst nicht weiter betrieben, nachdem das Jugendamt in Berichten vom 05.11.2019 und 18.02.2020 sorgerechtliche Maßnahmen nicht für notwendig erachtet hatte.
Soweit die Kindesmutter wegen der Vorfälle zudem Strafanzeige erstattet hatte, wurde gegen den Kindesvater in dem beim Amtsgericht unter dem Aktenzeichen 510 Js 58224/19 geführten Verfahren zunächst ein Strafbefehl erlassen. Auf seinen Einspruch wurde er durch Urteil vom 27.11.2021 jedoch freigesprochen; auf die dagegen gerichtete Berufung der Kindesmutter wurde das Verfahren durch Beschluss des Landgerichts B. vom 08.09.2021 gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt.
Mit Schriftsatz vom 27.01.2020 beantragte der Kindesvater die Fortsetzung des Sorgerechtsverfahrens, weil die Kindesmutter den Umgang mit dem Kind nicht zulasse. In dem daraufhin zum Aktenzeichen 247 F 23/20 UG eingeleiteten Umgangsverfahren hörte das Amtsgericht J. am 20.02.2020 und die übrigen Beteiligten in der Sitzung vom 24.02.2020 an, wobei die Kindeseltern eine weitere vorläufige Vereinbarung über einen regelmäßigen begleiteten Umgang in der Erziehungsberatungsstelle trafen. Ferner ordnete es durch Beschluss vom 27.02.2020 die Einholung eines Gutachtens dazu an, welche Umgangsregelung dem Kindeswohl am besten entspreche und wie es den Eltern gelingen könne,...