Entscheidungsstichwort (Thema)
Das Ausbleiben einer bestmöglichen Förderung eines Kindes durch den sorgeberechtigten Elternteil stellt keine Kindeswohlgefährdung dar.
Leitsatz (amtlich)
1. Die Möglichkeit eines zukünftigen Ausfalls eines allein betreuenden Elternteils eines schwer behinderten Kindes stellt keine gegenwärtige Kindeswohlgefährdung dar. Die vorbeugende Fremdunterbringung zum Zwecke einer für das Kind vorteilhaften frühzeitigen Eingewöhnung in einer Einrichtung ohne konkreten Anlass rechtfertigt nicht den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und der Gesundheitsfürsorge.
2. Das Ausbleiben einer bestmöglichen Förderung eines Kindes durch den sorgeberechtigten Elternteil stellt keine Kindeswohlgefährdung dar. Soweit die grundlegenden, unverzichtbaren Lebensbedürfnisse des beteiligten Kindes sichergestellt sind, liegt es allein in der Verantwortung der sorgeberechtigten Eltern, inwieweit sie ihr Kind fördern.
3. Die Belastung des Umfelds eines umfänglich pflegebedürftigen behinderten Kindes, namentlich durch Störungen der Mitschüler, durch Beanspruchung von Pflegern und Betreuern und auch die praktische Erschwernis, dass mit dem alleinerziehenden Elternteil nur mittels Dolmetscher kommuniziert werden kann, stellen keine Gefährdung des Kindeswohls dar und rechtfertigen auch in der Summe nicht den Entzug von Teilen des Sorgerechts.
Verfahrensgang
AG Northeim (Aktenzeichen 2 F 229/20) |
Tenor
1. Auf die Beschwerde vom 29.06.2022 wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Northeim vom 30.05.2022 aufgehoben.
2. Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden genannt Mutter) wendet sich gegen den Entzug von Teilen des Sorgerechts durch das Amtsgericht - Familiengericht - Northeim.
Das Kind M. D. P. ist am ...2008 geboren und lebt mit seiner Mutter T. T. H. N. in einer Einzimmerwohnung in N. H.. Der Vater V. D. P. ist im Jahr 2018 verstorben. Die Eltern stammen aus Vietnam. Die Mutter lebt seit 15 Jahren in Deutschland. Ihre deutschen Sprachkenntnisse sind sehr begrenzt. Sie ist nicht berufstätig und bestreitet den Lebensunterhalt der Familie von Kindergeld, Witwenrente und dem Pflegegeld für M. Ihr Antrag auf Leistungen des Jobcenters wurde aufgrund des Vorhandenseins von Vermögen abgelehnt.
Das Kind M. ist geistig behindert, leidet unter frühkindlichem Autismus mit schwerer Entwicklungsstörung der Kommunikation und der Sprache. Zudem hat er erhebliche Defizite in den Bereichen soziale Interaktion, Alltagsbewältigung, Motorik, Spiel- und Arbeitsverhalten. Ihm fehlen die Fähigkeiten der Steuerung, Bewertung und Einsicht in sein Verhalten. Er hat einen hohen Förderbedarf und benötigt Betreuung rund um die Uhr, wobei die Einrichtung einer Familienhilfe aufgrund der Sprachbarriere der Mutter nicht zustande kam. M. besucht ganztags eine Förderschule, die I-schule des Pädagogischen Therapiezentrums (PTZ) E. Hier ist ein Schulbegleiter für ihn eingesetzt. Die Förderschule berichtet, er sei das mit Abstand schwierigste Kind, so sei er ständig in Bewegung, nehme Gegenstände in den Mund, halte keine Distanz zu anderen Menschen und spiele in unbeobachteten Momenten mit seinen Exkrementen. Er habe in der Förderschule Interesse nur an Bindfäden, Bändern und an Essen. Zum Teil schreie er laut auf und man wisse nicht, ob er Schmerzen habe oder was der Grund sei.
Das Kind M. kann nicht sprechen, sondern nur lautieren und in die Hände klatschen. Sein Händeklatschen wird seitens der Förderschule als zum Teil zwanghaft erlebt. Sein Gemütszustand ist zumeist fröhlich und er kann sich nonverbal verständigen, indem er mit der Hand auf Gegenstände zeigt. Er benötigt ständige Beaufsichtigung und Führung und kann sich nicht allein beschäftigen. Bei der Durchsetzung eigener Interessen kann er sehr rigoros werden und es kann bei Frustrationen zu Ausrastern in der Förderschule kommen. Den Berichten der Förderschule zufolge schlage er sich in Momenten des Ausrastens selbst mit der Hand ins Gesicht bis dieses gerötet ist, werfe sich auf den Boden und schlage den Kopf auf den Boden. In diesen Momenten müssen mehrere Erwachsene einschreiten und ihn auf einen Sitzsack tragen, bis er sich beruhigt. Es dauert dann 10 bis 15 Minuten, bis er sich beruhigt.
M. wird mittlerweile physisch zum erwachsenen Mann und entwickelt entsprechend Kraft. Körperlich überragt er mittlerweile seine Mutter. Sein Verhalten beschreibt die Förderschule als nicht alltagsadäquat und als nicht sozialverträglich. Ein Verständnis für fremdes Eigentum hat er nicht. Hat ein Kind in der Förderschule Geburtstag, so muss der Kuchen versteckt werden, da M. diesen sonst eigenmächtig und mit den Fingern zu sich nimmt. Beim Mittagessen kommt es vor, dass er sich an fremdem Essen vergreift. Auch hat er bereits Schokolade im Geschäft entwendet, als ihm danach war. Sein Essen nimmt er im Üb...